Jurafuchs Podcast #009 | Dürfen Staatsbedienstete religiöse Symbole bei Verrichtung ihres Amtes tragen? | BVerfG, Beschluss vom 14.01.2020 - 2 BvR 1333/17 („Kopftuchverbot III“) u.a.
Zusammenfassung
Unsere Weihnachtsfolge dreht sich um die Religionsfreiheit in einer sehr aktuellen Konstellation: Dürfen Amtsträger:innen und Bedienstete staatlicher Einrichtungen religiöse Symbole bei Verrichtung ihres Amtes tragen? Diese Frage beschäftigt die Gesellschaft und die juristische Fachwelt seit Jahren, vor allem im Zusammenhang sogenannter „Kopftuchverbote“. Diese waren Gegenstand mehrerer Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverfassungsgerichts. Das BVerfG befasste sich damit zuletzt in seinem Beschluss vom 14.02.2020 (2 BvR 1333/17) zum Kopftuchverbot für Referendarinnen. Das Thema hat an juristischer und gesellschaftlicher Relevanz seither an nichts eingebüßt.
Professorin Ute Sacksofsky, Inhaberin der Professur für öffentliches Recht und Rechtsvergleichung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vizepräsidentin des Hessischen Staatsgerichtshofs, geht dem Problem auf den Grund: Sie erläutert, was die Religionsfreiheit schützt, worin der besondere Konflikt liegt, wenn Amtsträger:innen bei der Ausübung ihres Amtes zugleich Zeichen ihrer religiösen Glaubensüberzeugung tragen, welche Rechtsgüter durch sogenannte Kopftuchverbote geschützt werden sollen und warum Kopftuchverbote auch mit Blick auf die Gleichberechtigung problematisch sind.
Interview (Transkript)
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif, dem Rechtsprechungspodcast von Jurafuchs in Kooperation mit dem Nomos Verlag. Mein Name ist Wendelin Neubert und zusammen mit meinen Gästen gehe ich dem Kontext und den Hintergründen aktueller Gerichtsentscheidungen auf die Spur.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Glauben ist nichts, das nur im Inneren passiert, sondern die Idee von Religion ist, dass man sein ganzes Leben danach ausrichtet. Das, wofür die Glaubensfreiheit auch steht, dass hier jeder Mensch gleichermaßen dazugehört, egal welche Religion er oder sie hat. Gemeinsam ist, dass es immer um einen Konflikt geht: Inwieweit kann die Amtsträgerin oder der Amtsträger seine Religion weiterleben oder zeigen? Inwieweit kann er oder sie Glaubensgeboten folgen, auch während er oder sie ihr Amt ausübt?
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Mein Gast ist Professorin Ute Sacksofsky. Sie ist Inhaberin der Professur für öffentliches Recht und Rechtsvergleichung an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Daneben ist Professorin Sacksofsky Vizepräsidentin des hessischen Staatsgerichtshofs. Im Übrigen ist Frau Professorin Sacksofsky Mitglied im Direktorium des Cornelia-Goethe-Zentrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse an der Goethe-Universität. Seien Sie herzlich willkommen.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Vielen Dank, guten Tag.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir sprechen über die verfassungsrechtlichen Rechtsfragen im Zusammenhang des öffentlichen Tragens religiöser Symbole durch Amtsträgerinnen und Amtsträger, beziehungsweise Bedienstete staatlicher Einrichtungen. Im Vordergrund der öffentlichen Debatte stehen dabei Amtsträgerinnen beziehungsweise Mitarbeiterinnen öffentlicher Einrichtungen, die aus muslimischer Glaubensüberzeugung ein Kopftuch tragen. Zahlreiche Bundesländer haben das sichtbare Tragen von politischen und religiösen Symbolen an staatlichen Arbeitsstellen verboten. Aber es ist ein Verbot, das gerade auch muslimische Frauen trifft, die ein Kopftuch tragen. Verkürzt werden diese Verbote auch als "Kopftuchverbote" benannt. Und das Bundesverfassungsgericht hat sich in drei viel beachteten Entscheidungen der Jahre 2003, 2015 und 2020 mit sogenannten Kopftuchverboten befasst. Aber auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der EuGH haben sich zu diesen Rechtsfragen geäußert. Liebe Frau Professorin Sacksofsky, könnten Sie für uns zum Einstieg bitte einmal das hier maßgebliche Grundrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit in Erinnerung rufen?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Die Glaubens- und Religionsfreiheit ist in Artikel vier des Grundgesetzes gewährleistet. Und das Bundesverfassungsgericht hat dieses Grundrecht in ständiger Rechtsprechung sehr extensiv ausgelegt und es als einheitliches Grundrecht ausgelegt. In Wirklichkeit hat es zwei Absätze. Man könnte auf die Idee kommen, da einen Unterschied zu konstruieren. Aber das Bundesverfassungsgericht tut es nicht. Und ich glaube, es hat damit auch Recht, sodass man einfach davon ausgehen kann, dass wir ein einheitliches Grundrecht der Glaubensfreiheit haben.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay, dieses weite Verständnis der Glaubensfreiheit hat in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu geführt, dass das Gericht faktisch alle Erscheinungsformen von glaubensgeleitetem Verhalten der Grundrechtsträgerin und Grundrechtsträger für geschützt erachtet hat. Können Sie uns das ein bisschen greifbar machen? Also was ist alles geschützt? Man sagt ja das forum internum und das forum externum. Was versteht man darunter?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Man könnte auf die Idee kommen, dass Religions- oder Glaubensfreiheit eigentlich nur das Spirituelle begegnen, also nur Gottesdienste und Beten oder die Glaubensüberzeugungen im Inneren betrifft. Aber das Bundesverfassungsgericht hat von Anfang an gesagt, dass dem nicht so ist, sondern hat formuliert: "Es gehört dazu nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln." Daher kommt dieser sehr weite Schutzbereich, der auch deshalb richtig ist, weil Glauben nichts ist, das nur im Inneren passiert, sondern die Idee von Religion ist, dass man sein ganzes Leben danach ausrichtet. Und deshalb ist es richtig, diesen Schutzbereich weit zu fassen.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt stellt sich ja die Frage: Was ist eigentlich vom Glauben erfasst, wenn man einen so breiten Schutzbereich hat? Stellt sich jetzt der Staat hin und sagt, dieses oder jenes Verhalten ist jetzt geschützt, oder wie funktioniert das?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Das funktioniert glücklicherweise nicht so, denn damit würde das Grundrecht völlig konterkariert, wenn der Staat festlegen dürfte, was man glauben darf und was man nicht glauben darf. Es funktioniert so, dass sich das, was zum Glauben gehört, durch das Selbstverständnis des Einzelnen oder des Einzelnen, der oder die ihre eigene religiöse Überzeugung leben kann, beurteilt wird. Das geht natürlich nicht grenzenlos. Wir kennen die Geschichte mit dem Spaghettimonster oder die Kirche des Spaghettimonsters, die natürlich als Satire auf Religion gemeint ist. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht beschlossen, wie wir das im Recht letztlich immer machen, auch wenn es auf subjektive Überzeugungen ankommt, die wir nicht verlässlich abfragen können, weil da jeder sagen kann, was er will, dass man eine gewisse Plausibilität braucht. Was mir daran aber so wichtig ist, und das missverstehen manche Menschen, ist, dass es keine religiöse Doktrin gibt, die festlegt, was man glauben darf oder nicht. Es gibt ja beim Kopftuch ab und zu die Diskussion, bei der irgendwelche Menschen anfangen, den Koran auszulegen und zu erklären und sagen, dass im Koran doch gar nichts darüber drin, dass man da Kopftücher tragen muss. Das ist genau nicht die Frage, die man beantworten darf oder die man schon gar nicht stellen darf. Der Staat jedenfalls darf sie ganz sicher nicht beantworten, weil es typisch für Religionsfreiheit ist, dass es auch bei Weltreligionen verschiedene Strömungen gibt. Wenn wir daran denken, wie viele christliche Sekten es gibt, ist natürlich die Interpretation, was genau gemeint ist, mit religiösem Verhalten, sehr unterschiedlich, je nachdem, welcher Strömung eines Glaubens man anhängt. Und das Grundrecht der Glaubensfreiheit schützt alle diese Strömungen. Es ist also auch und gerade ein Grundrecht für Sekten.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Die Religionsfreiheit wird also so weit geschützt, wie Sie es beschrieben haben. Und jetzt kommen wir noch stärker zu unserem Themenkomplex. Da würde ich gerne genauer erfahren: Worin liegt denn jetzt das besondere verfassungsrechtliche Spannungsfeld, wenn Staatsbedienstete oder Angestellte von staatlichen Einrichtungen ihre Religionsfreiheit ausüben?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Na ja, man könnte sagen, und das ist eine Frage, die im Rahmen der Kopftuch-Entscheidung auch durchaus gestellt worden ist, dass die Religionsfreiheit während der Wahrnehmung des Amtes keine Rolle spielen kann. Mit dem Argument, dass sich der Beamte freiwillig dazu entscheidet, in den Staatsdienst zu gehen. Deshalb kann er sich hier nicht auf seine individuellen Grundrechte berufen. Das ist aber eine Haltung, die wir generell inzwischen überwunden haben und auch für die Religionsfreiheit überwunden haben, sodass es in dieser Allgemeinheit sicher nicht stimmt. Aber es ist natürlich die Grundfrage, und darum geht der ganze Streit: Was ist unser Verständnis von Neutralität, von Neutralität der Amtsführung? Diese Neutralität ist ein ganz hohes Gut. Wir wollen auf jeden Fall Beamtinnen und Beamte haben, die ihr Amt neutral ausüben, soweit das menschenmöglich ist, und nicht nach ihren persönlichen Vorlieben, Interessen, Motiven und so weiter handeln. Und deshalb ist das ein hohes Gut. Deshalb darf die Religion natürlich nicht unmittelbar in die Amtsführung einfließen, das ist vollkommen klar. Also ein Richter darf beispielsweise nicht nach seiner religiösen Überzeugung als Katholik urteilen, dass jeder Schwangerschaftsabbruch ein Mord ist und wegen Mordes bestrafen, das geht auf gar keinen Fall.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir haben jetzt dogmatisch ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht gesehen.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Ja, wir haben einen vorbehaltlos gewährtes Grundrecht. Und deshalb können nur Güter von Verfassungsrang zur Beschränkung herangezogen werden.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt haben wir diese weltanschaulich religiöse Neutralität des Staates als ein solches Verfassungsgut, das geeignet ist, die Religionsfreiheit einzuschränken oder Beschränkungen zu rechtfertigen. Welche weiteren wichtigen Verfassungsgüter, die in Konflikt geraten können und deshalb geschützt werden müssen, beziehungsweise zu deren Schutz eine Einschränkung der Religionsfreiheit in Betracht kommt, kommen hier in Betracht?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Also man kann an die negative Religionsfreiheit derer denken, die in dieser staatlich kreierten Situation einem Amtsträger mit religiösem Ausdruck entgegentreten. Das wäre denkbar. Dann, welche Verfassungsgüter es sonst sein können, da müsste man sich die jeweiligen Konstellationen sehr genau angucken. Also beispielsweise, wenn man über die Justiz redet, geht es natürlich um Fragen der Unabhängigkeit der Justiz. Wenn man über Schule redet, geht es möglicherweise um so etwas wie Schulfrieden. Also es hängt ein bisschen von der Konstellation ab, über die wir gerade sprechen.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Gut, dann lassen Sie uns doch diese unterschiedlichen Konstellationen noch einmal genauer in den Blick nehmen. Es gab schon eine Vielzahl von Konstellationen, die Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen über Kopftuchverbote waren. Primär waren das, nach meinem Verständnis, Entscheidungen, in denen Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen, Lehrerinnen und Rechtsreferendarinnen, aber auch Sozialpädagoginnen von solchen Kopftuchverboten betroffen waren. Wodurch zeichnen sich solche Konstellationen aus, in denen Kopftuchverbote ergehen?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Gemeinsam ist, dass es immer um diesen Konflikt geht, inwieweit die Amtsträgerin oder der Amtsträger seine Religion weiterleben oder zeigen oder Glaubensgeboten folgen kann, während er oder sie ihr Amt ausübt. Das ist die prinzipielle Frage. Aber die Frage, welche Beschränkungsmöglichkeiten es gibt, die hängt natürlich von der jeweiligen Konstellation ab. Jedenfalls möglicherweise, weil gerade Abwägung und Verfassungsgüter davon abhängen, worüber wir gerade sprechen. Die gemeinsame Grundfrage bekommt sozusagen eine andere Färbung, je nachdem, in welcher Konstellation wir fragen.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Lassen Sie uns so vertieft einsteigen in die rechtliche Bewertung von Kopftuch verboten. Diese Entscheidungen stehen gewissermaßen pars pro toto für Beschränkungen von der Religionsausübung durch Amtsträger, weil sie, vielleicht auch historisch, in der Zeit nach dem 11.09.2001 besonders von einer aufgeladenen Öffentlichkeit in den Fokus der Diskussion gerückt wurden. Vielleicht können Sie einmal einen Einstieg zu der Frage geben, inwieweit Kopftuchverbote sich historisch entwickelt haben und wie sie sich zu anderen Beschränkungen verhalten, die auch religiöse Glaubensüberzeugungen beinhalten, also das Tragen von Kreuzen beispielsweise.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Nach meinem Kenntnisstand ist vor unserer ganzen Kopftuchdebatte keiner auf die Idee gekommen, das Tragen von Kreuzen in irgendeiner Form zu untersagen. Mir sind an religiösen Kleidungsvorschriften nur uralte Anti-Bhagwanentscheidungen in Erinnerung geblieben, also wo die orangene Kleidung als Ausdruck untersagt wurde. Ansonsten war das kein Thema und ich finde das interessant zu überlegen, ob es wirklich der 11. September war, der das Ganze hochgekocht hat. Denkbar wäre auch, dass es einen stärkeren gesellschaftlichen Konflikt darstellt, weil es verstärkter zu sehen war. Das kann ich so nicht sagen. Man weiß nur, dass es vor diesen ganzen Kopftuchverbotsdebatten vereinzelte Lehrerinnen mit Kopftüchern gab. Da hat kein Hahn danach gekräht. Also die haben einfach ihren Unterricht gemacht und das wurde nicht als Bedrohung wahrgenommen. Insofern ist vielleicht die Idee, dass es etwas mit 9/11 zu tun hat schon denkbar, aber es könnte auch einfach die Realisierung sein, dass wir mehr Einwanderungsland sind, als sich viele Menschen lange eingestehen wollten.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Interessant. Also die Debatte hat ja dann auch nach der ersten Entscheidung 2003 erst richtig Fahrt aufgenommen. Steigen wir da mal ein. Die erste Kopftuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2003. In der hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass Kopftuchverbote nur auf formal gesetzlicher Rechtsgrundlage ergehen dürfen. Wie würden Sie das bewerten? Diese Betrachtung des Bundesverfassungsgerichts 2003.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Die Argumentation des Gerichts weist eben ein großes Problem auf, weil sie einerseits sagt, dass es eine gesetzliche Grundlage braucht. Zweitens sagt, dass diese in den Ländern unterschiedlich ausfallen kann. Also sozusagen eine Föderalismus-Komponente. Und das passt, nach meiner Auffassung nach, nicht wirklich zu einem bundeseinheitlich-vorbehaltlos gewährleistetem Grundrecht. Man müsste mir erklären, warum die Neutralität, oder die negative Religionsfreiheit, in Bayern eine andere ist als in Baden Württemberg, Hessen oder in Bremen. Und das ist schon ausgesprochen schwierig, wenn wir uns vorstellen, wir haben nun gerade ein vorbehaltlos gewährleistet das Grundrecht, das eigentlich nur durch Verfassungsgüter beschränkt werden kann. Warum die in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich sein sollen, ist schon sehr schwer vorstellbar.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Interessant. Das Bundesverfassungsgericht kommt nach meinem Verständnis dadurch zu diesem Ergebnis, dass es sagt, dass der Gesetzgeber eine formalgesetzliche Rechtsgrundlage für die Einschränkung schaffen muss. Und in der Ausgestaltung und in dem Ausgleich der konkurrierenden und kollidierenden Rechtsgüter ist ihm ein gewisser Einschätzungsspielraum vorbehalten. Das ist ja etwas, das wir immer wieder bei der Ausgestaltung von verfassungsrechtlich aufkommenden Konflikten haben. Warum wird das hier zu so einem besonderen Problem?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Weil wir es normalerweise nicht bei vorbehaltlosen Grundrechten haben. Bei Gesetzesvorbehalt selbstverständlich. Da darf der Gesetzgeber zuordnen und muss nur verhältnismäßig entscheiden. Aber er hat natürlich einen Spielraum und eine Einschätzungsprärogative. Die Besonderheit bei vorbehaltlosen Grundrechten, jedenfalls der Theorie nach, ist gerade, dass sich die Grenzen aus der Verfassung selbst ergeben. Da ist eigentlich, wenn man die Dogmatik der vorbehaltlosen Grundrechte streng nimmt. Aber das Bundesverfassungsgericht hat das in seiner Weisheit anders gesehen.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das Gericht hat ja dann diese Büchse geöffnet und musste gewissermaßen konsequent mit dieser Dogmatik fortschreiten und hat dann 2015 in seiner zweiten Entscheidung dann eine parlamentsgesetzliche Regelung vor Augen gehabt, die es dann bewerten musste. Und darin ging es um eine Rechtsgrundlage in Nordrhein-Westfalen. Ich lese die kurz vor, damit auch plastisch wird, was der Gesetzgeber aus dieser ursprünglichen Vorgabe gemacht hat. "Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnlichen äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören." So weit, so gut. Weiter geht es: "Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerinnen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt." Jetzt haben wir erst einmal eine relativ weit gefasste Norm, die an diese verfassungsrechtlichen Rechtsgüter anknüpft. Und auf der Grundlage wurden jetzt den späteren Beschwerdeführern, eine Sozialpädagogin und eine Lehrerin, die Aufforderung erteilt, zukünftig kein Kopftuch mehr zu tragen. Jetzt wird hier der Einschätzungsspielraum, den das Bundesverfassungsgericht in der ersten Entscheidung dem Gesetzgeber zugestanden hat, aufgegriffen und wird zum Problem. Macht das Bundesverfassungsgericht denn hier noch Einschränkungen?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Das Bundesverfassungsgericht schränkt in dieser zweiten Entscheidung ausgesprochen stark den Spielraum des Gesetzgebers ein, indem es verlangt, dass es eine konkrete Gefahr geben muss. Und da sieht man schon an der Weite der Norm, dass das schon in der Norm nicht zum Tragen kommt. Das heißt, das Bundesverfassungsgericht entscheidet sich wieder nicht dafür zu sagen, dass Kopftuchverbote gegenüber Lehrerinnen nicht akzeptabel sind. Es gibt die Möglichkeit, Kopftücher zu verbieten. Aber wenn man die Entscheidung genau liest, sieht man, dass es eigentlich kaum vorstellbar ist, in welchen Konstellationen das nach dieser Rechtsprechung noch möglich sein soll.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Da hatten wir auch eine Lehrerin als eine der wesentlichen Beschwerdeführer, und es ging auch um das Rechtsgut des Schulfrieden. Also wir brauchen eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens und Hinweise auf eine konkrete Gefährdung oder gar eine Störung des Schulbetriebes. Das gab es in diesem Fall nicht. Und es gibt dieses vermeintliche Rechtsgut des Schulfrieden, das zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung auch herangezogen wird. Und noch einmal, wir müssen uns vor Augen führen, dass es sich um ein Verfassungsgebot handeln muss, um eine Einschränkung von Artikel 412 Grundgesetz rechtfertigen zu können. Wie steht es mit diesem Rechtsgut des Schulfriedens? Wo kommt das her und was muss man darunter eigentlich verstehen?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Das Rechtsgut des Schulfriedens passt natürlich zu Artikel sieben, dem Schulerziehungsauftrag des Staates. Das Problem mit dem Schulfrieden ist, und das scheint letztendlich auch in der zweiten Kopftuch Entscheidung durch, weil er da ja auch eine Rolle spielt, ist die Vorstellung, dass die muslimische Lehrerin mit ihrem Kopftuch irgendwie den Schulfrieden gefährden könnte. Und da macht die Entscheidung sehr deutlich, das kann nur in sehr eingeschränkten Konstellationen angenommen werden. Aber ich würde sagen, es kann in keiner Konstellation angenommen werden, weil wie kann denn eine muslimische Lehrerin mit Kopftuch den Schulfrieden gefährden? Eigentlich nur darüber, dass irgendwelche Menschen sich an ihrem Kopftuch stören, Eltern oder Schüler und dadurch Konflikte entstehen. Ich wüsste nicht, welche andere Konstellation hier den Schulfrieden beeinträchtigen könnte. Und dann muss man doch nach streng polizeirechtlichen Grundsätzen, das ist das Einmaleins des Polizeirechts, gegen die Störer vorgehen und nicht gegen die Nichtstörerin. Also mit anderen Worten: Das Problem sind die, die dadurch den Schulfrieden stören, dass sie eine muslimische Lehrerin nicht ertragen können und nicht umgekehrt. Das irritiert mich schon sehr. Ich finde es als Beispiel sehr schön, man stelle sich einmal vor, rechtsextreme Eltern protestieren gegen einen Lehrer mit dunkler Hautfarbe. Da würde doch kein Mensch auf die Idee kommen zu sagen, dass der jetzt versetzt werden muss oder gar entlassen werden muss oder sonst irgendetwas. Sondern da würde man immer sagen, dass die Eltern und die Kinder jetzt lernen müssen, damit klarzukommen. Und ich denke, dass das letztlich nichts Anderes ist und, dass deshalb der Schulfrieden ohnehin nur ein sehr vermitteltes Verfassungsgut ist. Aber wenn er ein vermitteltes Verfassungsgut ist, dann muss man immer noch daran denken, wer es hier eigentlich gefährden kann und wie man damit als Staat umgehen muss.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Eine wichtige Konsequenz aus dieser Entscheidung war die Feststellung, dass ein pauschales Kopftuchverbot verfassungswidrig ist.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Ja.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ich erinnere mich auch an die verfassungsrechtliche Diskussion, dass das Gericht die Büchse, die es geöffnet hatte, wieder zu schließen versucht hat. Es gibt diesen Spielraum, aber er bewegt sich in sehr engen Grenzen. Und jetzt kommt die Kopftuchentscheidung von 2020. Jetzt haben wir einen anderen Regelungsbereich. Gegenstand waren hier Anordnungen gegen eine Rechtsreferendarin in Hessen. Und dieser Rechtsreferendarin war untersagt worden, während des Referendariats auf der Richterbank zu sitzen, Sitzungsleitung und Beweisaufnahmen durchzuführen, Sitzungsvertretung in der Amtsanwaltschaft zu übernehmen und so weiter. All die schönen Dinge, die man als Referendar so machen darf. Was unterscheidet diese Sachverhaltskonstellation qualifiziert von der eben diskutierten Konstellation?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Das ist nicht so ganz einfach zu beantworten, weil man es auf verschiedenen Ebenen beantworten kann. Man kann sozusagen versuchen, die beiden Entscheidungen möglichst kompatibel zu machen. Man kann auch sagen, die Eine ging vom ersten Senat aus und die andere vom zweiten. Und der zweite Senat ist da anderer Auffassung. Das ist meines Erachtens auch sehr deutlich herauszulesen. Man kann aber auch sagen, dass ein Unterschied zwischen Justiz und Schule besteht. Dafür spricht in der Tat manches. Man könnte auch sagen, im Bereich der Justiz ist es sehr viel wichtiger, dass man die Person hinter das Amt zurücknimmt, während die Lehrerin ja gerade auch zur Erziehung beiträgt. Und erziehen kann man nur als ganzer Mensch und nicht mit einer Fassade vor sich, hinter die man völlig zurücktritt. Also eine Lehrerin in Robe würde heute unseren Vorstellungen von Erziehung nicht mehr entsprechen. Und deshalb ist es für die Schule noch einmal leichter zu sagen, dass es möglich sein muss, religiös verbindliche Gebote für sich einzuhalten. Möglicherweise anders als in der Justiz. Von daher ist die Schule schon noch einmal ein besonderer Raum, genauso wie Kindertagesstätten und alles, wo es um den Bereich Erziehung geht.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Was das Bundesverfassungsgericht zumindest zum Ausdruck bringt ist, dass wir eine formalisierte Situation vor Gericht haben. Und das Auftreten der einzelnen Amtsträger, gerade auch in ihrem äußeren Auftreten, ist klar definiert. Es gibt eine besondere Distanz und ein Gleichmaß, das sie auszeichnen soll, damit, und da kommen wir zu den Rechtsgütern zurück, diese weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates, wenn er im Über-Unterordnungs-Verhältnis in Erscheinung tritt, über jeden Zweifel erhaben ist.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Ja, ich glaube, dass da insofern etwas dran ist, als dass es erst einmal plausibler ist zu sagen, dass es eine andere Situation ist. Aber es ist natürlich auch eine Vorstellung von Rechtsprechung, die wir heute normalerweise eigentlich gar nicht mehr so vertreten würden. Also, dass Rechtsprechung objektiv in dem Sinne ist, dass es völlig egal ist, wer da als Richter sitzt. Über diese Vorstellung von Objektivität und Neutralität sind wir doch eigentlich hinaus, weil wir wissen, dass Interpretation immer etwas mit dem subjektiven Akteur, der interpretiert, zu tun hat und das wissen wir letztlich, jedenfalls am Bundesverfassungsgericht, besonders deutlich, da wir die Sondervoten haben. Da sehen wir, dass die Interpretation nicht einheitlich ist. Und dann ist auch nicht mehr so klar, warum eigentlich das Sehen, dass jemand eine religiöse Überzeugung hat, hier problematisch sein sollte.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Was mich an der Stelle der Entscheidung überrascht hat, war, dass das Gericht jetzt nicht vertieft in die Diskussion eintritt, worin eigentlich die negativen Auswirkungen einer religiösen Überzeugung auf die Rechtsprechung liegen könnten. Also konkret zu sagen, dieser und jener Glaubenssatz hat zur Folge, dass die und die Entscheidung anders ausfällt, als die höchstrichterliche Rechtsprechung es vorsieht. Also eine Plausibilisierung der Beeinträchtigung der Rechtsgüter, der Neutralität, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und auch der negativen Glaubensfreiheit Dritter. Meinen Sie, das Gericht hat es sich an der Stelle zu leicht gemacht? Oder können Sie nachvollziehen, warum sich das Gericht hier in einer solchen Weise leiten lassen hat, die Entscheidung so zu treffen, wie es sie getroffen hat?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Ich halte es nicht für richtig, wie es die Entscheidung getroffen hat. Aber ich glaube schon, dass sie Angst hatten, oder das ist jedenfalls das, was dahintersteht. Es gibt in der Bevölkerung viele Menschen, die ausgesprochen negativ auf kopftuchtragende Frauen reagieren. Und sie haben Angst, dass diese Abwehr sich in eine generelle Abwehr der Justiz übersetzt oder umsetzt, dass also die Befriedungsfunktion, die Rechtsprechung ja hat, dadurch in Frage gestellt wird. Das würde ich denken, dass das der tiefere Hintergrund ist, weshalb sie es so stark machen. Ich finde eben gerade diesen Gegensatz zur richterlichen Unparteilichkeit, wenn sie so klar sagen, dass die richterliche Unparteilichkeit nicht tangiert ist, dann fragt man sich doch wirklich. Also das würde ich ja noch verstehen, wenn man sagen würde, dass das die richterliche Unparteilichkeit beeinträchtigt, die wir unbedingt für Rechtsprechung brauchen. Aber genau das, das geben sie ja zu, ist nicht betroffen. Dann wird es schon sehr schwierig, noch zu konstruieren, wo eigentlich das Problem liegen soll.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt ist das Gericht hier im Ergebnis, in dieser Entscheidung, zu dem Schluss gekommen, dass die kollidierenden Verfassungsgüter im Wesentlichen im Gleichmaß stehen, also dass keinem der kollidierenden Rechtsgüter ein derartig überwiegendes Gewicht zukomme, dass das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zwingend zu verbieten wäre oder zwingend erlaubt werden müsste. Eine vergleichsweise seltene Konstellation, in der das Gericht dann eben sagt, dass das Kopftuchverbot aus verfassungsrechtlicher Sicht zu respektieren ist, aber es sei dem Gesetzgeber auch zuzustehen, von einem Kopftuchverbot in der Justiz abzusehen. Wir haben jetzt wieder das Problem dieses Gestaltungsspielraums. Da kommen wir zurück. Wie bewerten Sie das als Ergebnis dieser Entscheidung?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Na ja, ich habe deutlich gemacht, dass ich es problematisch finde. Politisch gesehen ist es mir noch lieber, es ist wenigstens offengehalten und es wird nicht für die Ewigkeit festgeschrieben, dass Kopftuchverbote zwingend in der Justiz notwendig sind. Noch lieber hätte ich gehabt, dass der Ausbildungsaspekt deutlicher gemacht wird. Man hätte ja die ganze Frage der Richter gar nicht entscheiden müssen, weil es ja nur um eine Rechtsreferendarin ging, und man hätte sich auf die Ausbildungsschiene zurückziehen können. Das haben sie gesagt.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Zum Ausdruck kommen vom Richter.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Ja, und da haben sie gesagt, dass sie das deshalb nicht machen können, weil die Rechtsunterworfenen, die im Gerichtssaal, die wissen gar nicht, dass das jetzt nur eine Auszubildende ist.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ich muss auch gestehen, ich erinnere mich an meine Ausbildung sehr gut und meine Richterin machte immer deutlich, dass, wenn ich vor Gericht in Erscheinung treten durfte, dass ich der Referendar bin und nichts anderes. Ja, salomonisch ist die Entscheidung letztlich dann schon so, dass, wie Sie es beschrieben haben, beide Möglichkeiten offenbleiben, sowohl das Verbot, aber auch, von einem Verbot abzusehen. Jetzt gibt es einen Aspekt, der mit Entscheidungen deutlich zu kurz kommt und auf den sie auch wiederholt in ihrer praktischen und auch wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema hingewiesen haben, nämlich, dass von den Kopftuchverboten ausschließlich Frauen betroffen sind. Haben Kopftuchverbote für öffentliche Ämter nicht eine rechtlich relevante diskriminierende Wirkung für Frauen in Bezug auf den Zugang zu diesen öffentlichen Ämtern? Oder ist es ein bloßer Rechtsreflex?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Nach meiner Auffassung ist es, und das ist ja auch in der zweiten Kopftuchentscheidung, wenn ich mich recht entsinne, durchaus mit aufgenommen, eine mittelbare Diskriminierung von Frauen. Zwar ist es theoretisch denkbar, dass diese religiösen Verbote auch Männer treffen, etwa Juden mit Kippa oder männliche Sikhs, das wäre denkbar. Aber in Wirklichkeit weiß erst einmal jeder, weshalb diese Vorschriften erlassen worden sind. Und ganz überwiegend treffen sie eben muslimische Frauen. Und von daher ist es meines Erachtens und, wie gesagt, ich glaube in der zweiten Kopftuch Entscheidung wird das auch so gesehen, eindeutig eine mittelbare Diskriminierung von Frauen. Und was mich besonders erbost ist das, was die Nordrhein-Westfalen gemacht haben, dass sie dann auch noch ihr Kopftuchverbot mit dem Interesse der Gleichberechtigung von Männern und Frauen rechtfertigen. Man schließt gebildete, muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen wollen, von bestimmten ökonomischen Möglichkeiten aus, indem man sich auf Gleichberechtigung. Da müsste einem doch auffallen, dass da irgendwie ein Problem ist und, dass man irgendwie paradox handelt. Aber da hat sich der Diskurs irgendwie so verfestigt, dass man sagt, dass Kopftuchtragen Entwertung von Frauen ist und der Gleichberechtigung B: Widerspricht, obwohl nun alle Studien über Kopftuchträgerinnen belegen, dass das keineswegs so einfach ist, sondern dass viele der Kopftuchträgerinnen von ihrem Geschlechterbild vergleichsweise nicht so unterschiedlich sind, sondern das Kopftuch eher als emanzipatives Moment tragen. Und da dann einfach zu sagen, dass es unserer Vorstellung von Gleichberechtigung widerspricht, finde ich als gedanklichen Schritt schon sehr unzulässig.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und es wirkt auch auf etwas zurück, das Sie gerade eben sagten, dass die vielleicht eine politische Überzeugung oder politische Motivation für die verfassungsgerichtliche Entscheidung war, die Sorge der Öffentlichkeit vor einer Justiz von Menschen, die einem Großteil der Bevölkerung in ihrer Erscheinung fremd erscheinen mögen, diese Sorge aufzugreifen. Aber sie führt ja genau zum Gegenteil. Denn führen Kopftuchverbote dann nicht auch zu einem selbstauferlegten Rückzug gläubiger Musliminnen aus bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Ja. Das ist ein Teil des Problems. Und von daher kann ich diese Entscheidung integrationspolitisch nicht nachvollziehen, weil man sie gerade aus höheren Positionen raushält, nämlich aus dem Staatsdienst, also sozusagen ihnen Möglichkeiten verschließt, gerade auch in die Gesellschaft zu wirken und mit der Gesellschaft zusammen die Vorstellungen davon, wie Islam zu interpretieren ist, zu verändern. All diese Möglichkeiten werden genommen.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Diese diskutierten Regelungen, auf die sich die Kopftuchverbote stützen, sind für sich genommen nach ihrem Wortlaut neutral und untersagen gleichermaßen religiöse, politische, weltanschauliche oder ähnliche Äußerungen. Aber gelten diese Maßstäbe, die dann dazu entwickelt wurden, eigentlich religionsneutral oder wirken sie eher spezifisch gegen Muslime und Musliminnen im Besonderen?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Also zum zweiten Teil sage ich gerne etwas. Aber ich würde gern noch ein Moment vorschieben nämlich, dass es nicht ganz richtig ist, dass sie alle gleich wirken. Sowohl Nordrhein-Westfalen als auch die hessische Vorschrift haben eine besondere Hervorhebung des Christentums mit drin. Im hessischen Gesetz klingt das so: "Bei der Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz eins und zwei (das ist das, wo die Neutralität angeordnet wird) ist der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen." Und das ist gerade nicht die Gleichbehandlung. Und zu meinem großen Entsetzen ist das in der dritten Kopftuch Entscheidung gehalten worden, während eine ganz ähnlich formulierte nordrhein-westfälische Regelung in der zweiten Kopftuch Entscheidung für verfassungswidrig erklärt wurde. Und das Bundesverfassungsgericht hat in der dritten Kopftuchentscheidung erstaunlicherweise eine verfassungskonforme Auslegung vorgenommen. Wobei ich nicht verstehe, wie man das verfassungskonform auslegen soll, weil ich nicht verstehe, welche Symbole überhaupt für die christlich und humanistisch, sozusagen kulturbestimmte, Tradition stehen sollen. Ich verstehe das gar nicht. Also ich verstehe Kreuz für christlich, aber das soll es irgendwie nicht sein. Aber welche Symbole stellt sich denn das Gericht vor, die nicht die christliche Religion, aber die christliche und humanistische Tradition darstellen? Das kann man sich irgendwie nicht so richtig vorstellen. Und insofern ist das schon ein sehr bedenklicher Punkt, weil eigentlich die Gleichbehandlung der Religion ein ganz entscheidender Gehalt der Glaubensfreiheit ist. Das Bundesverfassungsgericht hat teilweise strikte Gleichbehandlung der Religionen formuliert, und das ist ein ganz wesentliches Moment, denn sonst grenzen wir eine Religion aus. Das ist genau, was der Staat eben nicht darf. Zu sagen, dass eine Religion besser ist als andere Religionen. Das ist das, das unbestritten durch die Glaubensfreiheit untersagt ist.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Nun sagt das Gericht aber genau in der 2020 Entscheidung auch "die christlich-humanistisch geprägte abendländische Tradition des Landes Hessen", was immer darunter zu verstehen sein mag, "darf nicht gegenüber anderen Glaubensbekundungen privilegiert werden".
PROF. UTE SACKSOFSKY: Ja, aber dann muss man mir einmal erklären, was dieser Satz noch bedeuten soll. Also, ich meine, ich komme aus Hessen. Ich habe die Diskussion mitbekommen, als dieses Gesetz gemacht wurde. Und es war ganz klar, worum es ging. Es ging um eine Privilegierung des Christentums. Das war der Hintergrund. Und wenn man sich die Landtagsdebatte anguckt, dann kann man da eigentlich keinen Zweifel haben. Ich verstehe nicht, wie man das irgendwie verfassungskonform auslegen soll, weil mir dieser gleichheitsrechtliche Gehalt wirklich wichtig ist. Der wird öfter übersehen. Er hat auch eine Weile gebraucht, bis er sich in der Bundesrepublik entwickelt hat. Am Anfang war klar, dass das Christentum privilegiert werden durfte. Aber das hat sich immer mehr in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heraus entwickelt, dass eine solche Privilegierung der Mehrheitsreligion nicht länger akzeptabel ist. Und das halte ich für richtig. Es gibt diese schöne Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, und ich finde die wunderschön, auch wenn sie traditionell und irgendwie ein bisschen altertümlich wirkt, aber diese Formulierung Heimstadt, dass der Staat Heimstadt für alle Bürger sein soll. Gut, jetzt würden wir uns das noch für alle Bürgerinnen und Bürger wünschen. Aber gut. Aber was es meint ist, und das, finde ich, ist wirklich das, wofür die Glaubensfreiheit auch steht, ist, dass hier jeder Mensch gleichermaßen dazugehört, egal welche Religion er oder sie hat.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja, und aber nicht nur allgemein dazugehört, sondern auch mit der nach außen getragenen Auslebung von religiösen Überzeugungen.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Ja, ich würde ja schon ein bisschen dazu sagen, das nach außen tragen ist eine Formulierung, die ich nicht verwenden würde, weil das so klingt, als könnte man es auch lassen. Das ist so etwas, das teilweise immer wieder vertreten wird, dass man sagt, dass das jemand besonders Dogmatisches sein muss, die ihr Kopftuch nicht einmal für die vier Stunden in der Schule ablegen kann. Aber das ist es ja nicht, sondern es ist ein für die einzelne Person verbindliches Glaubensgebot. Und das ist etwas ganz Anderes als nach außen tragen. Das ist seinen inneren Glaubensvorschriften folgen, ohne dass dabei irgendwer zu Schaden kommt. Wir reden nicht von Menschenopfern oder Ähnlichem, wo wir natürlich sagen würden, dass man diese Glaubensgebote, selbst wenn man sie hat, nicht nach außen tragen darf, und das ist auch richtig so, aber das hier ist ja etwas ganz anderes.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt haben Sie gerade einen Aspekt noch übersprungen, nämlich die Frage danach, inwieweit die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die in manchen oder vielen gesetzlichen Regeln dem Wortlaut nach auf alle Religionen gleich gemünzt sind. Ob die sich aber auch wirklich religionsneutral auswirken, oder ob die sich spezifisch auf die Anhängerinnen und Anhänger einer bestimmten Religion auswirken?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Also das ist letztlich die Frage nach mittelbarer Benachteiligung, weil es genau wieder darum geht, dass eine Religion, die, sagen wir wie der Protestantismus, keine besonderen Glaubensregeln für das Verhalten aufstellt, jedenfalls keine sichtbaren Glaubens Regeln für das Verhalten im Alltäglichen aufstellt, durch ein solches Gesetz überhaupt nicht betroffen ist, weil es nicht zum Inhalt des Glaubens gehört, irgendwie nach außen Symbole zu tragen oder seine Religion nach außen sichtbar zu machen. Wohingegen es natürlich Religionen, die solche Symbole, die auch von außen sichtbar sind, verlangen, ganz anders trifft. Und deshalb ist das das, was eben mit mittelbarer Benachteiligung erfasst wird, dass etwas, das eigentlich formal so klingt, als würde es alle gleich betreffen, in Wirklichkeit ganz unterschiedliche Auswirkungen hat, je nachdem, welche Religion oder welchen Typ von Religion wir überhaupt haben. Es trifft eben Juden, muslimische Frauen, Sikhs, um ein paar Beispiele zu nehmen, ganz anders, weil die davon betroffen sind. Als Protestantin muss man nichts ändern.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und da kommen wir dann zu dem Aspekt zurück, dass diese nach außen sichtbare Zugehörigkeit zu einer Religion allein als Anknüpfungspunkt genommen wird, aber nicht die vermeintliche Gefährlichkeit oder Gefährdung der Neutralität des Staates, die damit verbunden wäre. Da wird für mich diese mittelbare Anknüpfung noch einmal in besonderer Weise problematisch, weil sie überhaupt ungeeignet erscheint, um das Ziel, die Neutralität oder den Schutz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege oder den Schulfrieden, wirklich zu schützen.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Ja, es ist letztlich eine Zuschreibung von außen, die aufnimmt, was es teilweise in der Bevölkerung als Wahrnehmung gibt, dass jede Frau, die ein Kopftuch trägt, irgendwie islamistisch, oder jedenfalls in der Nähe des Islamismus ist. Und das ist einfach eine Zuschreibung, die so falsch ist. Dem Kopftuchtragen wird sozusagen ein überschießendes Moment zugemessen, so, als wolle man dadurch eine Botschaft aussenden, nämlich die, dass sich alle zum Islam bekehren sollen, oder was weiß ich. Aber das ist genau nicht, was der Inhalt der religiösen Überzeugung ist. Der Inhalt der religiösen Überzeugung ist, dass ich als Muslimin, die diesem Teil des Islams angehört, das Gebot habe, nur mit bedeckten Haaren in die Öffentlichkeit zu gehen. Das ist etwas völlig anderes.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt feiern wir Weihnachten und rechtlich handelt es sich um einen gesetzlichen Feiertag, der auf eine christliche Glaubensüberlieferung zurückgeht. Es würde mich zum Abschluss noch interessieren, inwieweit prägt Ihr Votum denn die Rolle von Religion in einer Gesellschaft, den rechtlichen Schutzumfang der Glaubensfreiheit? Kann sich der grundrechtliche Schutzumfange mit zu- oder abnehmender Bedeutung von Glaube und Religion auch verändern?
PROF. UTE SACKSOFSKY: Die Frage kann man wieder auf verschiedenen Ebenen beantworten. Man kann erst einmal sagen, dass es sich empirisch verändert. Also so etwas wie ein Verbot, religiöse Symbole in der Schule zu tragen, wäre vor 40 Jahren undenkbar gewesen. Da wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, so was zu machen, weil der Anteil der Bevölkerung, der einer der beiden großen christlichen Kirchen angehörte, noch höher als 90 Prozent war. Da war das überhaupt kein Thema. Insofern verändert sich natürlich dadurch, dass sich die religiöse Zusammensetzung ändert, individualisiert, pluralisiert, aber auch säkularisiert, jedenfalls in der Bundesrepublik, natürlich etwas, weil sich wie immer Verfassungsrecht in seiner Wirkung auch verändert, wenn sich die Lebenswirklichkeit ändert. Theoretisch würde ich aber sagen, dass je geringer die Bedeutung von Religion ist, desto stärker muss der verfassungsrechtliche Schutz von denen sein, die religiös sind, weil sie immer weniger durch den Mainstream geschützt werden. Also solange 90 Prozent Christen sind, muss sich ein gläubiger Christ vor nichts fürchten, weil seine Perspektive ohnehin hinreichend im politischen Prozess reflektiert ist. Je mehr es um Minderheiten geht, desto wichtiger ist der verfassungsrechtliche Schutz, weil Grundrechte eben Minderheitenschutz sind. Deshalb würde ich auch immer sagen, gerade die Religions- und Glaubensfreiheit ist ein Schutz der besonders Strenggläubigen, der Sekten, also derer, die gerade aus dem Mainstream rausfallen. Die brauchen den Schutz. Die, die der Mehrheitsreligion angehören, brauchen ihn nicht. Und die, die nicht religiös sind, brauchen ihn erst recht nicht. Deshalb ja, es gibt natürlich Veränderungen, aber nicht in dem Sinne, dass die Religionsbedeutung abnimmt und deshalb auch der verfassungsrechtliche Schutz weniger relevant werden soll. Das genaue Gegenteil ist der Fall.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Liebe Frau Professorin Sacksofsky, haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre Zeit, und das sehr anregende, gewinnbringende und engagierte Gespräch zu diesem wichtigen Thema.
PROF. UTE SACKSOFSKY: Vielen Dank.
DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Ich hoffe, euch hat diese Folge gefallen. Spruchreif ist nominiert für den besten Jura Podcast 2021 und ich würde mich sehr freuen, wenn ihr uns mit eurer Stimme unterstützt. Ihr könnt bis zum 31.12 auf der Website www.jurios.de abstimmen. Den Link findet ihr in den Shownotes. Falls euch der Podcast gefällt oder ihr Verbesserungsvorschläge habt, hinterlasst uns bitte eine Bewertung auf der Podcast Plattform eures Vertrauens. Das hilft uns enorm. Danke für eure Unterstützung. Spruchreif verabschiedet sich für 2021. Die nächste Folge erscheint im neuen Jahr Anfang Januar. Frohe Weihnachten.
Erwähnte Gerichtsentscheidungen
Die Kopftuchentscheidungen des BVerfG im Original findet ihr hier (Kopftuchverbot I, 2003), hier (Kopftuchverbot II, 2015) und hier (Kopftuchverbot III, 2020). Die Entscheidung des EuGH zu Kopftuchverboten vom 15.07.2021 findet ihr hier.
Die Besprechung des Beschlusses des BVerfG vom 14.01.2020 (Kopftuchverbot III) in der Jurafuchs App findet ihr hier. Jurafuchs ist die digitale Lernplattform für Jurastudentinnen, Rechtsreferendare und juristische Professionals. Unsere Expertinnen und Experten stellen für euch zusammen, was ihr für Studium, Referendariat und die beiden Staatsexamina wissen müsst und was ihr in der Praxis braucht.
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