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KLASSIKER: „Soldaten sind Mörder“ – mit Prof. Emanuel Towfigh

Jurafuchs Podcast #016 | Schützt die Meinungsfreiheit auch kontroverse mehrdeutige Meinungsäußerungen? | BVerfG, Urteil vom 10.10.1995 - 1 BvR 1476/91 u.a.

Zusammenfassung

2021 feierte das Bundesverfassungsgericht 70. Geburtstag. Aus diesem Anlass haben wir unseren Podcast ab Ende 2021 um ein neues Segment ergänzt: Spruchreif KLASSIKER. Wir diskutieren Leitentscheidungen aus 70 Jahren Bundesverfassungsgericht und zeigen auf, wie sie das Recht und das Leben in Deutschland geprägt haben und warum sie heute noch Relevanz entfalten.

In der dritten Folge von Spruchreif KLASSIKER diskutieren wir die berühmte Entscheidung „Soldaten sind Mörder“. In dieser Entscheidung macht das Bundesverfassungsgericht deutlich, wie die Meinungsfreiheit (Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG) anzuwenden ist in einem Fall, in dem eine kontroverse Meinungsäußerung unterschiedliche Deutungen zulässt (Urteil vom 10.10.1995 - 1 BvR 1476/91 u.a.).

Professor Emanuel V. Towfigh, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Empirische Rechtsforschung und Rechtsökonomik an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht, ruft diese Leitentscheidung in Erinnerung und bettet sie in ihren Kontext ein. Professor Towfigh erläutert die Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Verfassungsordnung des Grundgesetzes und erklärt, was von der Meinungsfreiheit geschützt wird. Er zeigt auf, wie mit Meinungsäußerungen umzugehen ist, die verschiedene Deutungen zulassen, und erklärt, wie die Fachgerichte mehrdeutige Meinungsäußerungen rechtlich würdigen müssen. Ausgehend hiervon legt er dar, warum die Aussage „Soldaten sind Mörder“ als kontextabhängige, mehrdeutige Meinungsäußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.

Interview (Transkript)

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: (Musik) Willkommen bei Spruchreif Klassiker. Mein Name ist Wendelin Neubert und zusammen mit Professor Emanuel Towfigh von der (?IBS Law School) gehe ich den Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes auf den Grund.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Der Meinungsfreiheit kommt für die Verfassungsordnung des Grundgesetzes elementare Bedeutung zu. Das Bundesverfassungsgericht verlangt hier von den Fachgerichten, dass die Äußerungen auch rechtlich gewürdigt werden. Wenn man sich sozusagen die Deutungsmöglichkeiten vor Augen geführt hat, muss man im Prinzip die meinungsfreundlichste Deutung wählen. Wenn Formulierungen oder die Begleitumstände eine nicht-ehrenrührige Deutung zulassen, dann verstößt ein Strafurteil, das diese nicht ehrenrührige Deutung übergeht, gegen Artikel fünf, Absatz eins, Absatz eins.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Hallo lieber Herr Professor Towfigh.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Herr Neubert, einen schönen guten Tag.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ich freue mich, dass Sie wieder bei uns zu Gast sind.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Immer wieder gerne.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir haben im vergangenen Jahr aus Anlass von 70 Jahren Bundesverfassungsgericht bereits begonnen, einige Klassiker-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit Ihnen zu diskutieren. Das wollen wir heute fortsetzen. Heute diskutieren wir eine Entscheidung, die wahrscheinlich auch jedem Student und jeder Studentin in den Ohren klingen sollte, nämlich die Entscheidung: Soldaten sind Mörder. Es ist eine darüber hinaus öffentlichkeitswirksam verfolgte Entscheidung. Diese Entscheidung wollen wir heute diskutieren. Es geht im Kern um die Grenzen und die Reichweite der Meinungsfreiheit. Könnten Sie uns zum Einstieg mal den Sachverhalt oder in diesem Fall die Sachverhalte vor Augen führen?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja, sehr gerne. Es geht um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1995, um die auch zeitlich einzuordnen. Sie fasst vier Verfassungsbeschwerden zusammen, die sich jeweils gegen strafgerichtliche Verurteilungen wegen Beleidigung der Bundeswehr und einzelner Soldaten durch Äußerungen wie Soldaten sind Mörder, daher der Name der Entscheidung, oder Soldaten sind potenzielle Mörder, wenden. Vielleicht skizziere ich ganz grob die den vier Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalte. Im ersten Verfahren hat der Beschwerdeführer ein Transparent mit der Aufschrift A Soldier is a Murder an einer Straßenkreuzung aufgehängt. Murder, also nicht Murderer, das ist sozusagen kein Versprecher, sondern tatsächlich A Soldier is a Murder. Das spielt auch in der Entscheidung hinterher eine große Rolle. (lacht) Zu der Zeit fand in der Region ein Nato-Herbstmanöver statt. Ein Offizier der Bundeswehr entdeckte das Transparent, informierte die Polizei und stellte gegen den Beschwerdeführer Strafantrag. Der Beschwerdeführer wurde in der Folge wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Zweites Verfahren: Beschwerdeführer verfasste ein Flugblatt mit einem Text, der sich mit dem Soldatenhandwerk und allgemeiner mit Militarismus und dem Schrecken des Krieges im Allgemeinen befasste, aber auch die Frage stellte, ob Soldaten potenzielle Mörder seien. Dabei nannte er auch die Bundeswehr, bezog sich aber gleichzeitig und sehr prononciert auf alle Armeen und Soldaten. Er ruft auf zu Frieden, Abrüstung, Menschlichkeit, Kriegsdienstverweigerung und zum Widerstand gegen den Militarismus. Ich habe mal so einen Abschnitt mitgebracht, damit man sich mal einen ganz groben Eindruck verschaffen kann. (I: Ja, Danke.) Sind Soldaten potenzielle Mörder? Eines steht fest: Soldaten werden zu Mördern ausgebildet. Aus Du sollst nicht töten wird Du musst töten, weltweit, auch bei der Bundeswehr. Und das wird auch nochmal wichtig im weiteren Verlauf, dass sozusagen der Fokus weltweit ist. Und dann kommt diese Einschränkung oder die Erstreckung sozusagen, das beinhaltet auch die Bundeswehr. Das Flugblatt hat er verteilt bei einer stattfindenden Ausstellung in der Aula einer Berufsschule vom Streitkräfteamt der Bundeswehr mit Karikaturen über die Bundeswehr und befestigte weitere Exemplare an mehreren Kraftfahrzeugen, die vor der Schule parkten. Ein Soldat und das Bundesverteidigungsministerium stellten daraufhin Strafantrag. Der Beschwerdeführer wurde wegen Beleidigung der Soldaten und der Bundeswehr zu einer Geldstrafe verurteilt. Drittes Verfahren: Beschwerdeführer verfasste einen Leserbrief aus Anlass des Freispruchs des Arztes Doktor A im Frankfurter Soldatenprozess. Dieser hatte einem Jugendoffizier der Bundeswehr vorgeworfen, alle Soldaten sind potenzielle Mörder, auch sie. Der Arzt wurde letztendlich freigesprochen, da die an sich beleidigende Äußerung nach Auffassung des Gerichts vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Der Leserbrief des (lachend) Beschwerdeführers, diesen Vorgang betreffend, der wurde aber angegriffen, weil in diesem Leserbrief der Beschwerdeführer schrieb: Ich erkläre mich in vollem Umfang mit Herrn A solidarisch und erkläre hiermit öffentlich: Alle Soldaten sind potenzielle Mörder. Daraufhin stellten jeweils ein aktiver und zwei ehemalige Berufssoldaten, ein Reserveoffizier und ein den Grundwehrdienst leistender Soldat Strafanträge. Und dreimal dürfen Sie raten, er (?bekommt)eine Verurteilung wegen Beleidigung. Schließlich viertes Verfahren: Bei einer Motorradausstellung in der Münchener Olympiahalle gab es auch einen Infostand der Bundeswehr, auf dem militärische Gerätschaften und ein altes Motorrad und Videos von Übungen mit Fahrzeugen und Gerätschaften gezeigt wurden. Die Beschwerdeführerin hielt gemeinsam mit einer weiteren Person vor dem Stand ein Transparent hoch, auf dem Soldaten sind potenzielle Mörder stand. Das untere Drittel dieses Wortes Mörder war überlagert oder unterlagert, je nachdem, wie man es gesehen hat, mit dem Wort Kriegsdienstverweigerer. Es wurde auch ein Flugblatt verteilt, das sich dagegen wendet, dass die Bundeswehr nur die Faszination der Technik darstelle, aber die Realität des Krieges verschweige. Auf der Rückseite des Flugblatts waren verschiedene Waffen, wie zwei im Vietnamkrieg getötete Zivilisten und der Rumpf eines von mehreren Gewehrschüssen getroffenen Menschen, zu sehen. Drei der vier auf dem Informationsstand tätigen Bundeswehrsoldaten haben dann gegen die Beschwerdeführerin und den Demonstranten, der mit ihr zusammen das Transparent hochgehalten hatte, Strafantrag wegen Beleidigung gestellt. Und auch sie wurden wegen gemeinschaftlicher Beleidigung in drei rechtlich zusammentreffenden Fällen verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht hob die entsprechenden Urteile und Beschlüsse auf und verwies die Sache an die Strafgerichteten zurück. Das ist es sozusagen, in a Nutshell, wenn man die ganze Geschichte erzählen möchte.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir haben also eigentlich vier persönlichst vollkommen separate Fälle, in denen verschiedene Personen auf die ein oder andere Weise zum Ausdruck gebracht haben, eine in einem mehr oder weniger starken Bundeswehr- oder Militärkontext die Aussage Soldaten sind Mörder oder Soldaten sind potenzielle Mörder. Und die Art, wie sie es zum Ausdruck gebracht haben, war immer ein bisschen anders: Transparente, Flugblätter und der Umfang, wie sie es zum Ausdruck gebracht haben, ein kurzer Ausdruck oder ein Leserbrief sogar.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Genau. Und vielleicht, was auch noch wichtig ist, dass nie jemand individualisiert worden ist. Also es ist nie ein spezifischer Soldat angesprochen worden, sondern es ging immer um den Plural: Soldaten sind Mörder.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und zugleich haben die zuständigen Strafgerichte sowohl eine Beleidigung der Bundeswehr als auch Einzelner den Strafantrag stellender Soldatinnen und Soldaten angenommen.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: So ist es, genau.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja, okay. Interessant. Die Details dieser Strafrechtsnorm werden wir uns gleich noch beschäftigen. Vielleicht gehen wir mal einen Schritt zurück, denn es geht ja im Wesentlichen um eine Entscheidung, die sich mit der Meinungsfreiheit befasst. Und deshalb wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie uns dieses Grundrecht, dieses elementare Grundrecht der Meinungsfreiheit mal offenbaren könnten.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: (lacht) Ja, das klingt jetzt größer als ich zu leisten imstande bin. Aber ich möchte es gern versuchen. Der Meinungsfreiheit kommt für die Verfassungsordnung des Grundgesetzes elementare Bedeutung zu. Und das Bundesverfassungsgericht sieht diese Bedeutung im Prinzip auf zwei Ebenen oder in zwei Dimensionen, wenn Sie so wollen. Zum einen kommt der Meinungsfreiheit zentrale Bedeutung für das demokratische Gemeinwesen zu: die offene und freie Kommunikation, der Austausch von Ideen, der Zugang zu Informationen, der Wettbewerb der Meinungen. All diese Punkte sind wesentlich für eine Demokratie. In diesem Sinne kann man sagen, ist die Meinungsfreiheit Grundlage jeder weiteren Freiheit. Da findet das Bundesverfassungsgericht auch diese sehr klassische Formulierung, dass das Grundrecht für die freiheitlich demokratische Grundordnung schlechthin konstituierend sei, indem es den geistigen Kampf, ich zitiere: die freie Auseinandersetzung der Ideen und Interessen gewährleistet, die für das Funktionieren dieser Staatsordnung lebensnotwendig ist. Nur die freie öffentliche Diskussion über Gegenstände von allgemeiner Bedeutung sichert die freie Bildung der öffentlichen Meinung, die sich in freiheitlich demokratischen Staaten notwendig pluralistisch im Widerstreit verschiedener und aus verschiedenen Motiven vertretener, aber jedenfalls in Freiheit vorgetragener Auffassungen vollzieht. Ja, das ist sozusagen die eine Ebene, die eine Dimension, die schlechthin konstituierende Bedeutung für das demokratische Gemeinwesen. Die zweite Ebene ist sozusagen die individuelle Ebene. Da sagt das Bundesverfassungsgericht, dass die Meinungsfreiheit unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit in der Gesellschaft und damit eines der vornehmsten Menschenrechte sei. Es erkennt Artikel fünf, Absatz eins auf Ebene des Individuums eine zentrale Rolle zu, indem die freie Meinungsäußerung eben elementar für die eigene Persönlichkeitsfindung und Selbstdarstellung in der Gesellschaft sei. Das heißt, wir haben zwei große Bedeutungen, zwei große Rollen, die der Meinungsfreiheit zugeschrieben werden. Das Eine aus der Logik des Individuums, welches schon auch ein starker Menschenwürdebezug ist, kann man sagen. Identität, Persönlichkeit, Entfaltung, Selbstdarstellung, ist sozusagen die individuelle Komponente. Und dann aber durchaus auch eine kollektive Komponente, die zur Grundlage des staatlichen Gemeinwesens wird. Demokratie lebt vom Austausch der Meinungen, lebt davon, dass die Minderheit zur Mehrheit erstarken kann. All das erfordert die Möglichkeit, sich frei zu äußern und sich frei austauschen zu können.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und diese verfassungsrechtliche Aufladung der Meinungsfreiheit und der Rückgriff oder die Vernetzung zu anderen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, die hier in dem, was Sie beschreiben, zum Ausdruck kommt, die wirkt sich ja dann später in besonderer Weise auf die Rechtfertigungsebene aus. Aber die spannende Frage im ersten Schritt ist doch vielleicht: Was schützt denn jetzt eigentlich die Meinungsfreiheit konkret jenseits der Tatsache, dass es ein so gewaltiges, bedeutsames, elementares Grundrecht ist in diesen Rollen, die Sie beschrieben haben?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Das kann man sehr schön auch in der Entscheidung, die wir hier gerade besprechen, nachlesen. Ich glaube, unter einem beispielsweise (?Barant) Nummer 108 führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass die Verfassungsnorm jedem das Recht einräumt, die eigene Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern, zu verbreiten. Es macht dann diesen Unterschied auf, auf den wir gleich auch noch eingehen werden, zwischen Meinungen und Tatsachenbehauptungen und sagt, dass Meinungen sich auszeichnen durch die subjektive Einstellung des sich Äußernden zum Gegenstand der Äußerung, dass sie das Urteil über Sachverhalte, Ideen und Personen enthalten und dass sich auf diese persönliche Stellungnahme, gerade auch im konkreten Fall, der Grundrechtsschutz beziehe und dass er deswegen auch unabhängig davon bestehe, ob die Äußerung rational oder emotional begründet oder grundlos sei, für sich genommen nützlich oder schädlich. All diese Erwägungen spielen sozusagen für die Eröffnung des Schutzbereichs keine Rolle. Allein der Umstand, dass eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie jetzt auch nicht dem Schutzbereich des Grundrechts, ja?

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also da haben wir einen sehr weiten Meinungsbegriff, wenn ich es hier richtig verstehe.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Absolut. Also das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Auslegung von Artikel fünf einen sehr weiten Meinungsbegriff etabliert. Es gibt dann so Graubereiche oder Randbereiche, wo die Frage ist: Zählt das noch dazu? Bei den Werturteilen, sagt das Bundesverfassungsgericht, ist vom Schutzbereich letztlich alles umfasst. Man kann es besser negativ definieren, was nicht unter wirtschaftlichem Druck abgegebene Aussagen sind, ja? Also dazu zählt jegliches Werturteil, ungeachteten Werts der Richtigkeit, der Vernünftigkeit, Emotionalität, Nicht-Emotionalität, auch Werbeaussagen sind beispielsweise umfasst. Da ist diese Rechtsprechung zu Schockwerbung einschlägig, auch scharfe und überspitzten Äußerungen. Und dann gibt es den Graubereich, wo es dann so ein bisschen unscharf wird. Und da ist die Frage: Wie sieht es eigentlich aus mit Formalbeleidigung, mit Schmähkritik, mit Angriffen auf die Menschenwürde? Sind die noch vom Schutzbereich umfasst? Und wird das dann sozusagen auf Rechtfertigungsebene abgewogen oder scheiden wir die schon aus dem Schutzbereich aus und sagen: Das sind keine Äußerungen, die von der Meinungsfreiheit umfasst sind? Neben den Werturteilen noch ganz kurz die Tatsachen, die auch von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, sofern sie nach dem Bundesverfassungsgericht der Meinungsbildung dienlich sind. In diesem Rahmen können sogar unwahre Tatsachen, Behauptungen vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sein. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn es die zumutbare Möglichkeit gab, die Unwahrheit zu erkennen oder wenn die Unwahrheit bereits zum Zeitpunkt der Äußerung unzweifelhaft feststeht, ja? Und falsche Zitate sind auch nicht geschützt. Das ist so das große Panorama von Werturteilen und Tatsachen und wie Sie sagen, ein unglaublich ausgreifender, breiter Schutz, der eben mit der Bedeutung des Grundrechts korrespondiert.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Nur noch zum Verständnis: (?Das Werturteil) zeichnet sich aus durch die subjektive Stellungnahme, das Dafürhalten. Was unterscheidet sich jetzt von der Tatsache? Was ist eine Tatsache in diesem Verständnis?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Da geht es letztlich um die Fragen der Faktizität, nachprüfbare Aussagen über die Wirklichkeit.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Vielen Dank. Jetzt haben wir sehr breit diesen umfassenden und sehr stark verfassungsrechtlich aufgeladenen Schutzbereich betrachtet. Vielleicht können Sie uns noch kurz sagen: Die von Ihnen vorhin geschilderten Äußerungen, Stellungnahmen der Beschwerdeführerin hier in unseren Fällen, wie sind die nach Maßgabe der Meinungsfreiheit im Schutzbereich zu bewerten?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Das Bundesverfassungsgericht führt hier sehr überzeugend aus, dass das alles Werturteile sind, die vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst werden und sieht da auch keine weiteren großen Probleme. Also das, was wir jetzt ausführlich diskutiert haben, Schmähkritik oder so was, derlei kommt hier nicht infrage, wird nicht herangezogen. Es sind Werturteile und es sind Meinungsbeiträge zu einer politischen Debatte. Das führt das Bundesverfassungsgericht auch sehr deutlich aus und sagt: Somit ist der Schutzbereich im Prinzip unproblematisch eröffnet. Und hier ist es ja auch so, dass diese verschiedenen Äußerungsformen wie Leserbrief, Banner, Flugblätter, dass diese auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allgemein erfasst sind und auch schon im Verfassungswortlaut angelegt sind, (?nämlich in) Wort, Schrift und Bild sich frei zu äußern. Das kommt hier ganz schön zum Ausdruck, dass all das unabhängig von der Äußerungsform erfasst ist.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Da kommt jetzt ja die Frage zum Eingriff in das Grundrecht. Worin liegt denn vorliegend der Eingriff in dieses Grundrecht?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Hier haben wir es mit Urteilsverfassungsbeschwerden zu tun. Also es geht jeweils um eine strafgerichtliche Verurteilung. Das heißt, die Meinung wird im Nachhinein sanktioniert. Im internationalen Recht spricht man vom Chilling Effekt, die so was auf die Meinungsfreiheit haben kann. Das hat Rückwirkungen, denn wenn man für eine Meinungsäußerung bestraft wird, dann behindert das natürlich zukünftig ähnliche Meinungsäußerungen. Insofern kann sozusagen auch eine gerichtliche Entscheidung hier eine Verurteilung wegen Beleidigung nach 185 StGB einen Eingriff darstellen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Dann kommen wir jetzt auf die Rechtfertigungsebene zu sprechen. Artikel fünf hat ja einen ganz interessanten Gesetzesvorbehalt in Artikel fünf, Absatz zwei. Können Sie uns da mal mitnehmen bitte.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Der Gesetzesvorbehalt in fünf, Absatz zwei sieht drei Schranken vor: die Schranke der allgemeinen Gesetze, die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze zur Jugend und das Recht der persönlichen Ehre. Da ist dann immer die Frage: Was ist ein allgemeines Gesetz? Ganz knapp ausgedrückt meint allgemeines Gesetz jedes Gesetz, das nicht gegen eine Meinung als solche gerichtet ist. Also es darf nicht eine spezielle Meinung verboten werden, wenn wir zum Beispiel an die McCarthy-Ära in den USA denken, wo bestimmte kommunistische Aussagen verboten waren. So was wäre kein allgemeines Gesetz.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Die Beschränkung der Meinungsfreiheit, die muss Ihrerseits meinungsneutral sein. Sie darf nicht an der Meinung andocken.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Genau.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Dann haben wir noch diese beiden anderen Schranken. Die-, spielen die eigentlich auch eine wirkliche Rolle in der Praxis? Die (?zum) (B: Ja.) Schutz der Jugend und der persönlichen Ehre?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Der Jugendschutz spielt in der Tat eine Rolle. Es gibt da ja den Index, wie er genannt wird, also das Verbot jugendgefährdender Schriften beispielsweise. Das wird ermöglicht durch diese Schranke, also dass bestimmte Literatur, bestimmte Spiele, bestimmte mediale Inhalte für Kinder und Jugendliche nicht zugänglich sind. Und der Ehrschutz, das ist sozusagen das Einfallstor, sagen wir mal, für Paragraph 185 StGB. Vor allen Dingen dann hinterher in der Abwägung spielt das eine große Rolle. Wir haben schon über Schmähkritik, Formalbeleidigung und so weiter gesprochen. Da zeigt das Grundgesetz, dass es da sozusagen Abwägungsmöglichkeiten sieht.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja, okay. Aber dieser 185 muss doch zugleich also auch ein allgemeines Gesetz sein. Das ist hier, glaube ich, auch kein Problem. Nur er ist ja meinungsneutral. Die Beleidigung ist von 185 StGB unter Strafe gestellt, aber nicht die Beleidigung beispielsweise einer bestimmten Meinung, einer bestimmten politischen Richtung oder ähnlichem.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Was vielleicht noch wirklich wichtig ist im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit, ist die sogenannte Wechselwirkungslehre, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Lüth-Urteil entwickelt hat. Was bedeutet Wechselwirkungslehre jetzt? Das Bundesverfassungsgericht sagt: Die allgemeinen Gesetze, die hier das Grundrecht beschränken können, müssen ihrerseits auch im Lichte der Bedeutung des Grundrechts gesehen und interpretiert werden, so dass das Grundrecht wiederum den allgemeinen Gesetzen eine Schranke setzt, ja? Und das ist dann sozusagen die Wechselwirkung, ja? Die allgemeinen Gesetze können beschränken, die Meinungsfreiheit. Aber Achtung: Wegen dieses überragenden Gewichts der Meinungsfreiheit wirkt die Meinungsfreiheit auch auf das zurück, was allgemeinen Gesetzen zulässig ist. Heute würde man das im Rahmen der Verhältnismäßigkeit prüfen, aber ich glaube, dass ich unseren zuhörenden Examenskanditat*innen doch empfehlen würde, das als gesonderten Prüfungspunkt zu verhandeln.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Super, Danke. Danke auch für diesen Hinweis. Nun haben wir jetzt diese Wechselwirkungslehre und dann würden wir sagen, wir betrachten also die 185, die Beleidigung, den Begriff der Beleidigung und legen ihn aus im Sinne der Meinungsfreiheit. Also auch dort jetzt nicht jede Form der Beleidigung, die man vielleicht unter diesem Wortlaut des 185 StGB subsumieren könnte, führt automatisch dazu, dass die Äußerung mit Blick auf die Meinungsfreiheit unzulässig und deshalb der Eingriff gerechtfertigt wäre.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Das ist richtig. Das Bundesverfassungsgericht verlangt hier von den Fachgerichten, dass die Äußerungen auch rechtlich gewürdigt werden und der Vorwurf hier oder sozusagen der Vorhalt gegenüber den Fachgerichten ist im Prinzip, dass die angegriffenen Entscheidungen den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an die rechtliche Würdigung von Äußerungen stellt, nicht gerecht werden. Was sind die Anforderungen? Das Bundesverfassungsgericht sagt: Der Sinn der Äußerung muss zutreffend erfasst werden. Das heißt, hier entstehen ja schon auf der Deutungsebene, auf der Würdigungsebene, Vorentscheidungen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Äußerungen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wie meinen Sie das (?auf) der Deutungsebene?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Je nachdem, wie ich die Aussage interpretiere, wird sie zulässig oder unzulässig. Wir wissen, die meisten Aussagen kann man auf unterschiedliche Art und Weise interpretieren, ja? Sprache ist deutungsoffen, ja? Das wissen wir alle seit den Gedichtsinterpretationen (lacht), Abitur, ja? Also da kann man viel rauslesen und reinlegen. Und wenn das Gericht sich auf eine Lesart oder ein Verständnis festlegt, kann es sozusagen das Ergebnis seiner Entscheidung prädeterminieren. Deswegen ist es wichtig, dass es bestimmten Regeln folgt bei der Interpretation der Aussage, bei der rechtlichen Würdigung der Aussage. Das Gericht muss sich deshalb bemühen, den objektiven Sinn einer Äußerung zu erfassen. Es geht weder um die subjektive Absicht des sich Äußernden noch um das subjektive Verständnis der die Äußerung Wahrnehmenden oder der von der Äußerung Betroffenen, sondern es geht um den Sinn, der sich nach dem Verständnis, wie das Bundesverfassungsgericht ausführt, eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums ergibt, ausgehend vom Wortlaut, aber den sprachlichen Kontext berücksichtigend, die Begleitumstände berücksichtigend und so weiter, (?ja).

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja, das ist interessant. Also wir haben hier so eine Art objektiven Empfängerhorizont hier. Es geht gar nicht um die Frage: Wie wäge ich jetzt eigentlich hier die kollidierenden Interessen rechtlich ab? Also auf der einen Seite habe ich die Meinungsfreiheit, auf der anderen Seite habe ich das Recht der persönlichen Ehre zum Beispiel und wer sind (?die) jetzt die Betroffenen. Sondern ich gehe einen Schritt zurück und frage mich: Wie muss ich diese Äußerung eigentlich verstehen? Und wenn ich Sie richtig verstehe, heißt das, bei mehrdeutigen Äußerungen muss ich auch alle verschiedenen Deutungen erstmal mir vor Augen führen.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Zumindest mal in Betracht ziehen, genau, ja? Und dann gibt es, ich sage mal, wieder so ein paar Filter, wo gewisse Bedeutungsgehalte unter Umständen ausgeschieden werden. Beispielsweise in dieser Entscheidung führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass bei der Interpretation des Begriffs Mörder nicht das Verständnis von Paragraph 211 StGB zugrunde zu legen ist, sondern der alltagssprachliche Gebrauch. Da würde man jetzt wahrscheinlich sagen, im Grundsatz, im Allgemeinen: Ja. Wenn Sie jetzt aber auf einem Juristenkongress sind (Dr. Carl-Wendelin Neubert: (lacht)) und da sagt der Eine zum anderen: "Herr Kollege, Sie sind ein Mörder.", dann ist möglicherweise doch Mörder im Sinne von 211 StGB gemeint, ja? Also es kommt auf den Kontext an. Und in aller Regel wird man sagen, dass man hier die alltagssprachliche Bedeutung zugrunde zu legen hat. Und dann muss man im zweiten Schritt, wenn man sich sozusagen die Deutungsmöglichkeiten vor Augen geführt hat, im Prinzip die meinungsfreundlichste Bedeutung wählen. Das heißt, das Bundesverfassungsgericht sagt: Wenn Formulierungen oder die Begleitumstände eine nicht-ehrenrührige Bedeutung zulassen, dann verstößt ein Strafurteil, das diese nicht-ehrenrührige Deutung übergeht gegen Artikel fünf, Absatz eins, Absatz eins.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Also wenn ich die Äußerung wähle, die verboten wäre, statt diejenige zu wählen, die noch in Ordnung ist, dann verletze ich die Meinungsfreiheit. (Prof. Emanuel Towfugh: Ja.) Interessant. Wir haben also diese spannende Besonderheit dieses Grundrechts hier, vor dem Einstieg der Rechtfertigungsebene zu prüfen, wie eigentlich die kollidierenden Grundrechte genau abzuwägen sind, erstmal einen Schritt zurückzugehen und zu fragen: Wie ist hier die Äußerung eigentlich zu deuten? Und mehrdeutige Aussagen dürfen nicht einfach einseitig gedeutet werden. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat das Bundesverfassungsgericht genau das bei einzelnen der Strafurteilen schon erkannt, dass diese Äußerung bloß eindeutig gedeutet wurden und die anderen Deutungsvarianten nicht berücksichtigt wurden. 

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Absolut, genau. Das Bundesverfassungsgericht sagt: Die Bezeichnung eines Soldaten als Mörder, das sei ein schwerwiegender Angriff auf dessen Ehre. Also wenn ich einen Mörder als Soldaten bezeichne, das ist eine Ehrverletzung, das ist ein schwerwiegender Eingriff. Aber es sagt gleichzeitig: Die Gerichte haben sich nicht hinreichend vergewissert, ob die Äußerungen, die inkriminierten Äußerungen diesen Sinn auch wirklich hatten. Sie hätten alternativen Deutungen nachgehen müssen, soweit diese strafrechtlich milder zu beurteilen gewesen wären. Und diesen alternativen Deutungen sind sie nicht nachgegangen. Da gibt es eine wunderbare Passage, Randziffer 131 folgende, wo unter anderem, ich habe das in der Einleitung schon angedeutet, das Bundesverfassungsgericht mit der Frage umgeht: Was heißt denn das jetzt, all Soldiers are Murder, ja? Also sozusagen grammatikalisch richtig, wenn man den deutschen Satz ins Englische übersetzen wollte, müsste man sagen: are Murderes, ja? Und Mörder ist einfach Mord. Was ist denn jetzt damit gemeint? Dann begibt sich das Bundesverfassungsgericht in die Exegese und macht eigentlich vor, was es von den Gerichten erwartet hätte, welche Form der Auseinandersetzung mit dieser Äußerung. Und führt dann aus, dass die Gerichte in längeren, sprachlichen Kontext, in dem die Äußerung bestanden haben, nicht berücksichtigt hat, also Flugblatt, Leserbrief, Transparent in Verbindung mit Flugblatt und dass Anhaltspunkte für die Gleichstellung von Soldaten mit Mördern dem Kontext, in dem die Äußerungen stehen, nicht zu entnehmen seien, dass es den Äußerungen vielmehr allgemein um die Vernichtung von Menschenleben als in Kauf genommene Folge der Existenz von Armeen und von Streitkräften ging und der damit verbundenen Bereitschaft von Kriegsführung und dass so in dem Sinne eine politische Aussage war, eine systemische Aussage, wenn man so will, die jetzt nicht gegen die Personen, gegen die Soldaten gerichtet war. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also das finde ich ganz spannend (?in der) Entscheidung, dass sie ja sehr detailliert diese verschiedenen Kontexte, die Sie im Sachverhalt geschildert haben, aufgreifen. Also wir haben diese Ausstellung, wir haben diese Messe und wir haben diesen Leserbrief. Es gibt sozusagen schon immer eine Auseinandersetzung mit dem Thema, auf die sich die Beschwerdeführerin dann gewissermaßen draufsatteln und daran anknüpfen, also es gibt oft einen reichen Kontext. Ausnahme war der erste Fall, den Sie beschrieben haben. Da ist der einzige Kontext eigentlich dieses Nato-Manöver in der Nähe einer US-amerikanischen Kaserne. Aber auch da würde man ja eigentlich denken, es ist offenkundig, dass es hier nicht um die Beleidigung eines einzelnen Soldaten oder gar der Bundeswehr ginge, sondern darum, was man davon halten mag und die Auseinandersetzung mit der Frage: Wie geht ein Volk mit Waffengewalt um? Ist es bereit, seine Söhne und Töchter in den Krieg zu schicken, wo sie dann eben andere Menschen töten? Und wie ist das natürlich auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte zu würdigen?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Absolut. Das ist sozusagen die erste Ebene. Es gibt noch eine zweite Ebene da drunter. Das ist die Frage: Was ist denn mit, die Mathematiker würden sagen, mit Allaussagen, also alle Soldaten sind Mörder, (lacht) alle Kreter sind Lügner? (lacht) Wie ist mit den sogenannten Kollektivbeleidigungen eigentlich umzugehen? Da steigt das Bundesverfassungsgericht wieder damit ein, zu sagen: Grundsätzlich ist nicht zu beanstanden, auch Kollektivbeleidigungen als Beleidigungen zu qualifizieren, also selbst dann, wenn es jetzt keine individuelle Aufschlüsselung gibt. Es schränkt dann aber wiederum ein und sagt: Ja, aber je größer das Kollektiv ist, desto schwächer kann die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an große Kollektive nicht mehr um die individuellen Mitglieder des Kollektivs und deren potenzielles Fehlverhalten geht oder um individuelle Merkmale, sondern um den aus Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs, ja? Und hier bei der Bundeswehr eben auch des Kollektivs und seiner Funktion, seiner sozialen Funktion.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Gerhard Schröder sagte irgendwann mal: "Alle Lehrer sind faule Säcke." Für den Einzelnen wäre das ein ziemlich starker Angriff auf die persönliche Ehre. Das ist eine sehr, sehr große Gruppe. Da kann man nur die Frage stellen, ob das überhaupt noch als Kollektivbeleidigung zu werten ist, selbst wenn, dann eigentlich nur noch zurückgenommen.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja. Und das hat das Bundesverfassungsgericht hier getan, also beispielsweise mit Blick auf unseren ersten Fall, wo die Äußerung sich ja auf alle Soldaten der Welt bezog, ja? Das sei ein so großes Kollektiv, dass die Ehrverletzung dahinter zurücktrete. Und dann sei es inkonsequent, eben die herabsetzende Äußerung über Soldaten, die sich auf alle Soldaten der Welt bezieht, nur deswegen auf die Soldaten der Bundeswehr zu beziehen, weil sie (lacht) ein Teil der Gesamtheit aller Soldaten seien. (Dr. Carl-Wendelin Neubert: (lacht)) Der Vortrag des Verteidigungsministeriums lautete: So groß ist das Kollektiv gar nicht, weil das Kollektiv Bundeswehr ist ja viel kleiner. (Dr. Carl-Wendelin Neubert: (lacht)) ... #00:00:42# Ja, das ist jetzt so ein bisschen zirkulär, ja? Es sind alle angesprochen und dann sind auch alle gemeint, ja? Deswegen kann man das jetzt hier nicht nur auf das Kollektiv der Bundeswehr beziehen. Die dritte Ebene, die das Bundesverfassungsgericht sich dann auch noch anschaut, ist die Schmähkritik und sagt: Ist das hier eine Schmähung, wenn hier die Soldaten als Mörder bezeichnet werden? Darum steht hier im Vordergrund die Diffamierung der Person, die Herabsetzung, die Entwürdigung der Person. Und da sagt das Bundesverfassungsgericht, ersichtlich jetzt auch nicht: Den Beschwerdeführern ging es um eine Auseinandersetzung in der Sache. Das Bundesverfassungsgericht führt dann auch aus, dass die Gerichte nichts dargelegt hätten, dass sie in den konkreten Äußerungen auch unter Berücksichtigung des Kontextes die Sachauseinandersetzung von den Personendiffamierung in den Hintergrund gedrängt (?werde), ja. Und damit ist auch hier sozusagen diese Grenze nicht erreicht. Insgesamt führt es dazu, dass das Bundesverfassungsgericht die Verurteilungen eben mit sehr fein schattierten Begründungen je Fall, aber im Ergebnis alle für verfassungswidrig hält.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das hat mich an der Entscheidung auch sehr beeindruckt, dass das Gericht wirklich sehr detailliert auf die Wertung, auf die Bewertung des einzelnen Falles, der einzelnen Sachaussage und ihres Kontextes eingegangen ist. Also dort den Maßstab, den das Bundesverfassungsgericht selbst aufstellt, sehr ernst nimmt und auch letzten Endes die fachgerichtliche Kompetenz sehr ernst nimmt, nämlich dass das ja eigentlich eine fachgerichtliche Aufgabe ist, sich mit dem Sachverhalt so en Detail zu befassen und dorthin auszulegen. Aber hier zu sagen: Die fachgerichtliche Auseinandersetzung, die ist ein Verstoß gegen spezifisches Verfassungsrecht, hat mich sehr beeindruckt an dieser Entscheidung. Sie zeigt auch die Sorgfalt, die das Bundesverfassungsgericht beiden Seiten hier gegenüber an den Tag legt, also nicht nur der Meinungsfreiheit, sondern auch dem Recht der persönlichen Ehre. Das Recht der persönlichen Ehre der betroffenen Soldatinnen und Soldaten wird hier nicht gering geschätzt, ja? Ich glaube, das kann man vor dem Hintergrund, dass die Bundeswehr auch der Prügelknabe der Nation ist, ein bisschen vergessen. Und das ist beeindruckend gleichzeitig, aber (?ist klar) auch mit Blick auf den historischen Kontext, ja? Dass unsere eigene besondere Verantwortung, die ja in vielen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck kommt, die hier auch in der Meinungsäußerung zu würdigen.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Absolut. Ich finde das auch eine sehr eindrucksvolle Entscheidung. Es gibt ja ein Sondervotum der Richterin Doktor (?Haas), die so ein bisschen in die Richtung zielt, die Sie jetzt gerade geschildert haben. Einer der Kritikpunkte ist, dass das Bundesverfassungsgericht sich eigentlich die tatrichterliche Deutungskompetenz anmaße. Und ich finde, so wie Sie es geschildert haben, zeigt sich eigentlich, dass es das nicht tut, sondern es etabliert die Maßstäbe und zeigt die Anwendung der Maßstäbe sehr detailliert und sehr fein, finde ich tatsächlich. Und trotzdem, obwohl es das hier alles durchexerziert, hebt es sozusagen die Entscheidung nur auf und sendet sie sozusagen zurück zur erneuten Entscheidung, also es spricht sozusagen die Verurteilten nicht frei, ja? Das ist kein Freispruch, sondern es sagt: Hier, die Gerichte haben die Maßstäblichkeit der Verfassung verkannt, haben eine andere Maßstabsbildung vorgenommen. Wir entwickeln für euch die Maßstäbe, wir spielen auch durch, wie die Maßstäbe anzuwenden sind, aber die tatrichterliche Deutung, die nehmen wir euch nicht ab, denn wir sind keine Supervisionsinstanz. Das ist natürlich die Aufgabe der Strafgerichte hier zu gucken, unter Anwendung dieser verfassungsrechtlichen Maßstäbe, wie hier zu Meinungsfreiheit und Ehrschutz in Einklang zu bringen sind oder ins Verhältnis zu setzen sind.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wie würdest du denn diese Entscheidung bewerten mit Blick auf ihre nachhallende Wirkung als verfassungsgerichtlicher Klassiker?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ich glaube, das ist eine große Entscheidung. Man muss sagen, viele der Maßstäbe, viele der Gedanken, viele der Ideen gab es vorher schon in der Rechtsprechung. Insofern wenn man jetzt sagen wollte, sie sei in besonderer Weise innovativ oder hätte jetzt irgendwas neu erfunden oder so was, bin ich mir gar nicht so sicher, ob das der Fall ist. Aber es liegen sehr plakative Äußerungen zugrunde. Das ist so das Eine. Ich glaube, das hat zu einer Popularität der Entscheidung geführt und dann auch der Umstand, dass es wirklich schulmäßig sehr, sehr sauber durchgeprüft wird. Das hat sicher zu dieser Langfristwirkung geführt. In der Vorbereitung auf unsere Gespräche lese ich ja dann immer die Entscheidungen nochmal. Es ist eine Entscheidung, die man sehr gut lesen kann. Also an einem kalten Winterabend, (Dr. Carl-Wendelin Neubert: (lacht)) lese ich dann am Kamin. Das kann ich Ihnen das nur ans Herz legen, da lernt man einiges. Man lernt auch einiges über den politischen Kontext der Zeit. Man gewinnt ein Gefühl für die Debatte, die es damals gegeben hat. Ich glaube auch, dass man die Strömungen innerhalb der gesellschaftlichen Debatte an dem Ringen des Bundesverfassungsgerichts ablesen kann. Ich möchte da nicht zu viel spekulieren und hineinlesen, aber solche Entscheidungen sind ja auch immer der Spiegel einer Gesellschaft in einer spezifischen Zeit. Und das merkt man an dieser Entscheidung auch sehr schön. Ich glaube, darin liegt ein Stück weit ihr Wert und auch das nachhaltige Interesse, das sich mit dieser (?Vor-)entscheidung immer noch verbindet.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: (Musik) Vielen Dank. Ja, auch deshalb schauen wir uns diese Entscheidung hier an. Danke Ihnen, lieber Herr Towfigh, von ganzem Herzen für diesen schönen Überblick und diesen vertieften Blick in das Grundrecht der Meinungsfreiheit und zu diesem tollen Fall.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Sehr gerne. Vielen Dank Ihnen, Herr Neubert. (Musik) (17 Sek.)

Erwähnte Gerichtsentscheidungen

Das Urteil des BVerfG vom 10.10.1995 im Original findet ihr hier. Die Besprechung des Urteils in der Jurafuchs App findet ihr hier.

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