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Unabhängigkeit von Behörden als Demokratieproblem? – mit Prof. Ann-Katrin Kaufhold

Jurafuchs Podcast #018 | In welchem Umfang müssen Regulierungsbehörden der Mitgliederstaaten unabhängig sein? | EuGH, Urteil vom 02.09.2021 - C-718/18 ("Bundesnetzagentur")

Zusammenfassung

Behördenorganisation klingt nur auf den ersten Blick langweilig. Denn dahinter verbergen sich grundlegende Fragen unseres demokratischen Gemeinwesens. Diese Fragen sind neu zu Tage getreten in einem Fall, in dem es um die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten geht. 2021 hat der EuGH entschieden, dass die deutsche Bundesnetzagentur bei der Erfüllung energieregulierungsrechtlicher Aufgaben nicht über die europarechtlich notwendige Unabhängigkeit verfügt (Urteil vom 02.09.2021, Rs. C-718/18). 

Warum diese technisch anmutende Entscheidung zu einem grundlegenden Problem für die deutsche Verfassungsordnung führt, erklärt Professorin Ann-Katrin Kaufhold, Inhaberin des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München

  • Welche Anforderungen stellt das anwendbare Unionsrecht an die Unabhängigkeit von Regulierungsbehörden? 
  • Warum entspricht die Aufgabenerfüllung der BNetzA diesen Anforderungen nicht? 
  • Warum steht die Unabhängigkeit von Behörden im Konflikt mit Anforderungen an ihre demokratische Legitimation?
  • Welche Anforderungen stellt das Grundgesetz an die demokratische Legitimation von Behörden? 
  • Sind unabhängige Behörden nach deutschem Verfassungsrecht überhaupt denkbar?
  • Stehen Unionsrecht und Verfassungsrecht in der Frage der Unabhängigkeit von Regulierungsbehörden in einem unauflösbaren Konflikt? 
  • Welche grundlegende Bedeutung beansprucht die Frage nach der Unabhängigkeit von Behörden über diesen Fall hinaus?

Interview (Transkript)

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif, dem Rechtsprechungspodcast von Jurafuchs. In Kooperation mit dem Nomos-Verlag. Mein Name ist Benedikt Neubert, und zusammen mit meinen Gästen gehe ich dem Kontext und den Hintergründen aktueller Gerichtsentscheidungen auf die Spur.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: EuGH sagt, Bundesnetzagentur muss auch gegenüber dem Gesetzgeber, in diesem Fall dem Verordnungsgesetzgeber, Bundesregierung, unabhängig sein. Aus deutscher verfassungsrechtlicher Perspektive ist eine unabhängige Behörde erst mal der absolute Ausnahmefall. Wir haben umgekehrt die Vorstellung, dass Behörden ihre demokratische Legitimation dadurch beziehen, dass sie einerseits personell, andererseits inhaltlich an das Parlament via Bundesregierung rückgebunden sind.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTMein Gast ist Professorin Ann-Katrin Kaufhold. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Seien Sie herzlich willkommen.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Hallo, Herr Neubert. Ich freue mich, dass ich da sein darf.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTJa, schön, dass Sie da sind. Vielen Dank. Wir sprechen über die Unabhängigkeit nationaler Regulierungsbehörden. Anlass ist eine Entscheidung, die möglicherweise geeignet ist, die deutsche Verwaltungsorganisation gehörig aufzurütteln. Am 02.09.2021 hat der EuGH entschieden, dass die Bundesnetzagentur nicht in dem Maße politisch unabhängig sei, wie sie es nach dem anwendbaren Recht der Europäischen Union sein müsste. Liebe Frau Professorin Kaufhold, könnten Sie uns zum Einstieg bitte einmal den Sachverhalt des zugrundeliegenden Falles schildern?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Das mache ich natürlich sehr gerne. Die Entscheidung mutet ja sehr technisch an, und ich würde auch vermuten, dass außer Expertinnen und Experten sich noch nicht viele damit beschäftigt haben. Ich glaube aber, es ist eine Entscheidung, die ganz grundlegende Fragen unserer Staatsorganisation und auch der Organisation unseres Wirtschaftsrechts berührt. Vielleicht versuche ich erst mal den Sachverhalt, der zugrunde liegt, ganz einfach zu schildern. Es geht um ein Thema, das uns alle im Moment aus traurigem Anlass besonders beschäftigt. Nämlich die Versorgung der Allgemeinheit mit Energie. Damit wir mit Energie versorgt werden, brauchen wir einerseits Unternehmen, die Energie produzieren, und diese Energie muss dann im Land verteilt werden. Und früher war es so, dass die Energieproduktion und -verteilung im Land mehr oder weniger aus einer Hand, aus staatlicher Hand gewährleistet wurde. Und seit den neunziger Jahren haben wir die Energiemärkte liberalisiert und privatisiert. Der Staat hat sich nach und nach zurückgezogen. Unterschiedliche Erwägungen, insbesondere die Vorstellung, dass man Wettbewerb generiert und damit Effizienzgewinne produziert. Ob das geklappt hat, wäre ein ganz anderes Thema. Jedenfalls hat es sich so entwickelt, dass die Energieproduktion und das Bereithalten von Energienetzen, von unterschiedlichen Firmen gewährleistet wird. Unterschiedliche Firmen produzieren Energie und betreiben Energienetze zur Verteilung der Energie im Land. Wenn man Energie produziert, und diese an die Verbraucherinnen und Verbraucher oder an Unternehmen liefern möchte, braucht man diese Netze. Das ist das, was man Leitungsgebundenheit nennt. Wenn Sie Energie produzieren und auf die Netze angewiesen sind, dann muss Ihnen die Firma, die das Netz betreibt, Zugang zu ihrem Netz gewähren. Und sie möchte natürlich Geld dafür, dass Sie Ihre Energie durch dieses Netz leiten dürfen. Und hier setzt die Regulierung an, über die wir heute sprechen. Denn in dem Moment, in dem jemand, der Energie produziert, mit jemandem verhandelt, der ein Netz betreibt, kommt es zu einer Situation, in der ein Ungleichgewicht in der Vertragsverhandlung entsteht, weil die Netze typischerweise nicht von konkurrierenden Betreibern angeboten werden. Sie können also nicht zwischen Netz A, B und C wählen, und sich überlegen, wo sie die besten Konditionen bekommen. Sondern, es gibt typischerweise, in Deutschland ist das so, immer nur einen Netzbetreiber, der für Sie in Betracht kommt. Warum ist das so? Weil es ökonomisch nicht sinnvoll ist, verschiedene Netze nebeneinander zu betreiben. Das ist für Sie als Energieproduzent aber äußerst misslich, weil Sie in dem Moment, in dem Sie Ihre Energie in das Netz einspeisen wollen, darauf angewiesen sind, dass der Netzbetreiber Ihnen ein gutes Angebot macht. Das funktioniert, wie man sich leicht vorstellen kann, nur sehr eingeschränkt gut. Und das haben dann auch die Europäische Union und der nationale Gesetzgeber festgestellt, und setzen hier mit ihrer Energieregulierung an. Und sie geben vor, dass jeder Energieproduzent diskriminierungsfrei Zugang zu diesen Netzen gewährt werden muss, gegen ein angemessenes Entgelt. Das ist die Standardformulierung. Und jetzt ist natürlich die Frage, die sich stellt, wer entscheidet denn, was ein angemessenes Entgelt ist? Und das ist die Frage, um die diese Entscheidung kreist. Wer entscheidet das eigentlich? In Deutschland war es bisher so, dass das die Bundesnetzagentur entschieden hat. Und die Bundesregierung hat aber relativ kleinteilig in verschiedenen Verordnungen geregelt, wie die Bundesnetzagentur ihre Entscheidungen zu treffen hat und welche Parameter sie zu berücksichtigen hat, und so weiter. Und der EuGH sagt in dieser Entscheidung, so geht es nicht. Das, was wir in den Europäischen Richtlinien geregelt haben, sieht vor, dass unabhängige Behörden über insbesondere die Entgelte, die man zahlen muss, um die Netze zu nutzen, entscheiden dürfen. Und dass auch, und hier wird es jetzt für uns aus deutscher Perspektive sehr besonders, der Gesetzgeber da nicht, wenn man es untechnisch formulieren will, reinregieren und das nicht kleinteilig vorgeben kann. Sondern, das muss eine unabhängige Behörde machen. Die müssen sich überlegen, wie setzen wir die Rahmenvorgaben, die das Europarecht setzt, um? Wie definieren wir im Einzelfall, nach welchen Parametern die Entgelte zu berechnen sind? Und das ist für deutsche Ohren eher ungewohnt, weil es aus unserer Sicht doch sehr merkwürdig anmutet, zu sagen, der Gesetzgeber kann einer Behörde nicht vorgeben, was sie zu tun hat. Ist das nicht ein Problem mit dem Demokratieprinzip? Kommen wir da nicht in Schwierigkeiten? Das ist der Rahmen dieser Entscheidung.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTOkay, das ist superspannend. Wie Sie schon sagten, es mutet auf den ersten Blick ziemlich technisch an. Wir haben einen, den meisten Zuhörerinnen und Zuhörern, selbst wenn sie juristisch vorgebildet sind, eher unvertrauten Kontext. Sehr spezielles Energieregulierungsrecht. Wir haben jetzt aber europarechtliche Regelungen. Sie haben beschrieben, es gibt eine Richtlinie, die umgesetzt werden soll. Und der EuGH sagt, die wurde nicht hinreichend umgesetzt. In dieser Richtlinie gibt es die Vorgabe zur Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden. Bei uns, wie Sie sagten, ist das in diesem Rechtsbereich die Bundesnetzagentur. Und dies sei nach Ansicht des EuGHs nicht hinreichend unabhängig, in Übereinstimmung mit diesen Anforderungen der Richtlinie. Okay. Im materiellen, nationalen Recht haben wir es ja ganz oft so, dass es, wie Sie es beschrieben haben, eine gesetzliche Vorgabe gibt. Die ist relativ weit gefasst. Und dann haben wir eine Konkretisierung, ausgehend von einer gesetzlichen Verordnungsermächtigung. Und dann erlässt nicht das Parlament die weiteren Regeln, sondern die Exekutive, die Regierung, ermächtigt durch diese Verordnungsermächtigung, im Rahmen der Anforderung Art. 80, Absatz 1 GG. Das ist sozusagen unser klares Verständnis, wie diese Aufgabe delegiert und runterdelegiert wird, in der Hierarchie der Organisation., Aber warum unterscheidet sich das so durchgehend von diesem Ansatz, den Sie gerade europarechtlich beschrieben haben? Was ist der wesentliche Unterschied?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Der wesentliche Unterschied ist, dass der EuGH in dieser Entscheidung gesagt hat, diese mittlere Ebene fällt raus, die ist nicht zulässig. Genau, wie Sie es gerade beschrieben haben, war es auch im Energierecht. Wir hatten diese europäischen Vorgaben, die wurde in nationale Parlamentsgesetz umgesetzt, mit einer Verordnungsermächtigung. Und von dieser Verordnungsermächtigung hat die Bundesregierung dann Gebrauch gemacht und, wie es immer so heißt, in einem dichten Geflecht von über 200 Regelungen normiert, wie die Bundesnetzagentur die gesetzlichen Vorgaben, die das europäische Recht umsetzen, anwenden muss. Und der EuGH sagt, in dem Moment, in dem die Bundesregierung das macht, nämlich dieses Geflecht von über 200 Normen zu erlassen, beeinträchtigt er die Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur. Durch die inhaltliche Ausgestaltung wird die Unabhängigkeit, die unabhängige Entscheidung der Bundesnetzagentur beeinträchtigt. Und das ist als solches wiederum nicht mit der europäischen Vorgabe vereinbar, dass die Bundesnetzagentur, wenn sie das tut, was wir gerade beschrieben haben, unabhängig handeln muss. Und damit fällt die mittlere Ebene weg.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTOkay. Das hieße, aus der Perspektive, die Sie gerade beschrieben haben, müsste die Bundesnetzagentur die Regelung, die die Bundesregierung in der Rechtsverordnung erlassen hat, selbst und in eigener Verantwortung erlassen?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Ganz genauso ist es. Und das Besondere, wenn ich das noch gerade sagen darf, was auch in der Rezeption dieser Entscheidung häufig hervorgehoben wurde, ich finde das als Formulierung des Europäischen Gerichtshofs nicht ganz glücklich. Ich glaube, das ist so absolut nicht richtig, aber es wurde immer wieder rezipiert. Der EuGH sagt, die Bundesnetzagentur muss auch gegenüber dem Gesetzgeber, in diesem Fall dem Verordnungsgesetzgeber, der Bundesregierung, unabhängig sein. Und das ist etwas, was wir bisher auch so nicht kannten. Die Unabhängigkeit auch gegenüber demjenigen, der eine abstrakte Norm selbst. Bisher war Unabhängigkeit konzipiert im Einzelfall. Da soll nicht jemand hinkommen und sagen: „Diesem Unternehmen tun Sie jetzt mal etwas Gutes. Da geben Sie jetzt mal besonders günstige Entgelte. Und bei dem anderen, naja, da ist das nicht so wichtig. Da können Sie ruhig ein bisschen höhere Entgelte festsetzen.“ Das war unser klassisches Verständnis von Unabhängigkeit. Und der EuGH sagt jetzt, nein, das geht noch weiter. Auch gegenüber dem Gesetzgeber, soweit er Dinge regelt, die nach Europarecht eigentlich von der Bundesnetzagentur oder Regulierungsbehörde geregelt werden sollen.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTNun könnte man sagen, was der EuGH hier vorschlägt, ist ja in unser aller Sinne. Die Unabhängigkeit von Behörden wünschen uns ja auch. Warum ergibt sich aus dieser Perspektive des Unionsrechts für das deutsche Verfassungsrecht ein Problem?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Unabhängigkeit ist ambivalent. Es ist genau richtig, was Sie sagen. Wir haben auch schon viele Argumente für die Unabhängigkeit erwähnt. Sie sind ohne Angesicht einzelner politischer Interessen im konkreten Einzelfall, langfristig orientiert. Es geht nicht um Wiederwahl. Wir brauchen also niemandem einen Gefallen zu tun. Wir können uns ganz dem widmen, was uns der Gesetzgeber aufgegeben hat. Einerseits. Andererseits hat dann, wenn wir es so machen wie jetzt, der Gesetzgeber und letztlich die Wählerinnen und Wähler, auch keine Möglichkeit mehr, auf diese Behörde Einfluss zu nehmen, wenn die Behörde so handelt, wie sie das nicht wollen. Oder anders gesagt, sie haben keine Möglichkeit, die Behörde abzuwählen. Wenn die Behörde ihre Aufgabe nicht so erfüllt, wie sich der Gesetzgeber das mal gedacht hat, und sie ist unabhängig, was kann man dann tun? Aus deutscher verfassungsrechtlicher Perspektive ist eine unabhängige Behörde erst mal der absolute Ausnahmefall. Wir diskutieren im deutschen Verfassungsrecht über unabhängige Behörden schon sehr lange, seit den fünfziger Jahren. Wir haben mit unterschiedlichen Intensitäten immer wieder darüber gesprochen, ob man sowas machen kann oder nicht. Da kann man natürlich auch Konjunkturen und Wellen beobachten. Aber aus deutscher Sicht ist und bleibt das bisher die absolute Ausnahme, die rechtfertigungsbedürftig ist. Wir haben umgekehrt die Vorstellung, dass Behörden ihre demokratische Legitimation dadurch beziehen, dass sie einerseits personell, andererseits inhaltlich an das Parlament via Bundesregierung rückgebunden sind. Sodass wir als Wählerinnen und Wähler, wenn uns das nicht passt, das bei der Wahl zum Ausdruck bringen können. Wir wählen die Regierung ab und die neue Regierung kann dann auf die Behörde anders Einfluss nehmen, als es die bisherige getan hat. So wäre unsere Vorstellung. Über die diversen Kanäle der Einflussnahmemöglichkeiten. Das ist demokratische Rückbindung. Und das hat etwas Negatives, weil es möglicherweise instrumentalisiert wird. Das ist die Gefahr. Positiv, man kann sie auch steuern, wenn einem nicht passt, was passiert.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTDas ist ja total interessant. Also Sie zeigen gerade auf, dass dieser uns bekannte Verwaltungsaufbau zum einen einen organisatorischen Grund hat, man muss Verwaltung irgendwie organisieren, es muss eine Abfolge geben. Aber es hat einen tieferen Grund, die demokratische Legitimation. Die Aufrechterhaltung und Herstellung demokratischer Legitimation. Sodass jede staatliche Entscheidung, also bis zum Bußzettel, der Ihnen an das Auto geklebt wird, auf eine ununterbrochene Kette von Legitimationsakten, in personeller und sachlicher Hinsicht, bis zum Souverän, also zu uns als Wählerinnen und Wählern zurückzuführen sein soll. Wofür ist das da? Es ist dafür da, dass wir als, wie Sie beschrieben haben, Wählerinnen und Wähler, als Souverän Einfluss haben können auf das, was am Ende vom Staat entschieden wird. Und zwar bis hinunter in die unterste Ebene. Aber bevor wir uns diesem sich offenbar hier androhenden Konflikt zwischen Unionsrecht und deutschen Verfassungsrecht im Detail widmen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie diese Grundsätze der demokratischen Legitimation noch mal aufzeigen könnten. Was sind die Anforderungen der demokratischen Legitimation an den Verwaltungsaufbau?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Demokratischer Verwaltungsaufbau. Viele Studierende, glaube ich, Rollen mit den Augen und denken: „Oh Gott, das ist wirklich gar nicht interessant.“ Aber das ist es, das ist meine tiefe Überzeugung, und ich finde es deshalb sehr spannend, wirklich ganz wichtig dafür, dass unser Staat gut funktioniert. Wie soll das funktionieren? Das, was ich jetzt vorstelle, ist das, was die Rechtsbrechung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland ist, und, glaube ich, die überwiegende Meinung die Vorstellung, die der EuGH da auf europäischer Ebene von demokratischer Legitimation hat, sind ein bisschen andere. Und natürlich sind sie auch in anderen Mitgliedstaaten im Einzelnen etwas andere Vorstellungen. Die Grundidee ist, wie Sie es gesagt haben, alles was passiert, jede staatliche Handlung, egal was es ist, muss auf den Wählerwillen zurückführbar sein. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten, die man traditionell unterscheidet. Erstens, wir müssen sehen, dass die Wählerinnen und Wähler auf die handelnden Personen Einfluss haben. Sie müssen über viele Ecken mitbestimmen können, welche Person den Bußgeldbescheid wegen Falschparkens an ihr Auto heftet.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTWenn ich da Einhaken darf, also ich habe ja keinen Einfluss auf die Person, die beim Ordnungsamt sitzt und da ein Bußgeld erlässt. Wie funktioniert das?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Das funktioniert über die verschiedenen Ecken. Zugegeben, bis zum Bußgeldbescheid ist es ein kleiner Weg, den wir gehen müssen. Aber er funktioniert. Wir wählen das Parlament. Das Parlament wählt die Regierung. Die Regierung ernennt die Behördenleitungen, die Behördenleitungen ernennen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und so ist es mittelbar rückgebunden an Ihre Wahlentscheidung. Gut, bei dem einzelnen Beamten und Beamtin im Ordnungsamt merkt man den Einfluss einer Wahl nicht sofort. Aber in vielen anderen Bereichen kommt das schon zum Tragen. Das ist die persönliche Schiene. Die Vorstellung, wir wissen, wer da handelt. Und damit haben wir auch einen Einfluss darauf, wie gehandelt wird und was hinten rauskommt. Das ist die erste Säule. Die zweite Säule ist eine inhaltliche Bindung. Wir wählen das Parlament, das Parlament erlässt Gesetze und steuert damit inhaltlich, wie die Personen, die dann für den Staat tätig werden, handeln. Also nicht welche Person handelt, sondern was sie tut, was sie tun muss. Das ist die inhaltliche Legitimation. Die inhaltliche und persönliche Bindung müssen immer zusammenkommen. So ist unsere Vorstellung. Und die können sich wechselseitig ergänzen. Wenn die inhaltliche Legitimation etwas schwächer ist, zum Beispiel weil das Gesetz nicht ganz präzise gefasst ist, sondern weite Spielräume eröffnet, dann können wir das durch etwas stärkere persönliche oder personelle Legitimation kompensieren, und umgekehrt.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTSie hatten es schon beschrieben, es braucht ein bestimmtes Legitimationsniveau. Und diese beiden Stränge, die personelle Legitimation und die sachlich-inhaltliche Legitimation können sich gegenseitig gewissermaßen ausgleichen. Wir brauchen dieses Niveau, aber in einem Fall kann die personelle Legitimation stärker ausgestaltet sein und fängt dann eine etwas schwächer ausgestaltete sachliche Legitimation auf, und umgekehrt. Eine stärkere sachliche Legitimation fängt eine etwas schwächer ausgestaltete personelle Legitimation auf. Lassen Sie uns versuchen, das noch mal ein bisschen konkreter zu fassen, durch welche Mechanismen diese beiden Stränge sichergestellt werden. Vielleicht fangen wir bei der personellen Legitimation an und wir haben die Ernennung der jeweiligen Person durch einen Ernennungsakt.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Die personelle Legitimation ist eigentlich der einfachere Teil, wenn man so will, weil es schlicht um diese Ernennungsketten geht. Wir wählen das Parlament, das Parlament wählt Regierung, und dann wird das weitergereicht. Trotzdem kann es die unterschiedlich intensiv geben. Warum? Weil, wenn man so will, je näher ich der Bundesregierung komme, und der Auswahlentscheidung des Parlaments, desto stärker bin ich personell legitimiert. Einfach deshalb, weil man so ein bisschen, wenn man es untechnisch formulieren wollte, beschreibt, dass sich die demokratische Legitimation, die vermittelt wird, über die vielen Weitergaben, etwas verflüchtigt. So könnte man vielleicht sagen. Also wenn ich 20 Ernennungen zwischen der Wahl der Bundesregierung durch das Parlament und der von uns jetzt vielzitierten Dame vom Ordnungsamt habe, dann sind die Korrekturmöglichkeiten des Parlaments eingeschränkt. Es dauert alles länger. Der Einfluss ist weniger direkt. Anders ist es, wenn ich eine Behörde habe, deren, sagen wir mal, Behördenleitung, in einem Verfahren, an dem sowohl die Bundesregierung als auch das Parlament selbst noch mal beteiligt sind, ernannt wird. Dann wäre diese Behördenleitung sehr eng am Parlament. Und damit hätte ich dieses personelle Element gestärkt.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTKommen wir noch mal zu dem zweiten Strang, der sachlich-inhaltlichen Legitimation. Die kann auch unterschiedlich ausgestaltet werden. Sie hatten Aufsichtsrechte genannt. Versuchen Sie es noch ein bisschen greifbarer zu machen. Wie sieht das konkret aus?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Die inhaltliche Legitimation kann oder wird klassischerweise, nach deutscher verfassungsrechtlicher Vorstellung, durch zwei Instrumente sichergestellt. Eines habe ich gerade schon beschrieben. Wir erlassen Gesetze. Die Verwaltung ist an die Gesetze gebunden, und damit steuern wir. Ein zweites Instrument, das im Zusammenhang mit unabhängigen Behörden eine wichtige Rolle spielt, ist die Tatsache, dass die Verwaltungsbeamten und -beamten und die nachgeordneten Behörden in eine sogenannte Weisungshierarchie eingebunden sind. Also wenn wir eben gesagt haben, der Weg bis zum einzelnen Verwaltungsbeamten ist vielleicht ein bisschen lang, okay. Dann ist der Weg bis zur Bundesregierung aber wesentlich kürzer. Und die Bundesregierung, äquivalent gilt das für Landesregierungen, kann über Weisungen, die Sie gegenüber der Verwaltung erlässt, die ihr nachgeordneten Behörden steuern und nachjustieren. Also sie kann das ergänzen, was das Gesetz, und wenn sie sagen, wie ihr das Gesetz anwendet, das ist nicht, wie es gedacht war, dann erlässt sie eine Weisung und steuert.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTWechseln wir noch mal kurz auf die unionsrechtliche Ebene. Der EuGH hat sich sicher mit den Argumenten der Bundesrepublik Deutschland auseinandergesetzt, die gesagt hat, es braucht diese Art der Organisation, weil das demokratische Legitimationsniveau, dass wir hier brauchen, das bei uns verfassungsrechtlich vorgegeben ist, nicht eingehalten wird. Was sagt der EuGH dazu?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Der EuGH sagt, das stimmt schon. Das schwächt die demokratische Legitimation, die über diese Rückbindung, in dem konkreten Bundesnetzagenturfall war es über den Erlass der Verordnung und die inhaltliche Steuerung, gewährleistet wird. Aber das ist eben nicht die einzige Möglichkeit der Rückbindung. Es gibt andere Möglichkeiten, rückzubinden. Und diese anderen Ketten oder anderen Rückbindungsmöglichkeiten reichen. Sie sagen erstens, da sind sich alle einig, wir brauchen ein hinreichendes Niveau. Das würde der EuGH auch sagen. Aber er ist etwas großzügiger als wir es traditionell in Deutschland waren, das ändert sich vielleicht auch, bei der Wahl der Instrumente, die man als Rückbindungsmöglichkeiten anerkennen kann. Er sammelt, wenn man so will, Legitimationsbausteine und schaut, was er alles in sein Körbchen legt. Und wenn am Ende genug drin ist, ist gut. Die Verfassungstradition in Deutschland war da wesentlich strenger und hat nur bestimmte Instrumente als Legitimationsinstrumente anerkannt. Und nicht, wie zum Beispiel der EuGH wohl sagen würde, die Tatsache, dass eine Aufgabe gut erfüllt wird und dann hinten ein gutes Ergebnis rauskommt, auch etwas ist, was im Sinne der Wählerinnen und Wähler ist. Argumente, die auf Output-Legitimation zielen, sind zumindest der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eher fremd.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTJa, die sind natürlich auch mit Blick auf das Verständnis demokratischer Legitimation thematisch, weil der Output ja vom Souverän bestimmt werden soll, und wiederum durch die gewählten Repräsentanten und dann die Bundesregierung, und so weiter.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Genau. Man könnte andererseits sagen, wenn wir im Gesetz definiert haben, was der Output sein soll, also wie die Aufgabe erfüllt werden soll, wenn das dann auch gelingt, dann ist es eigentlich etwas, was dafür spricht. Also darüber kann man trefflich streiten. Ich persönlich habe auch einige Sympathien für diese Output-Argumente. Nicht in jeder Form, aber in bestimmten Bereichen. Aber die Verfassungsrechtsprechung in Deutschland kennt das so nicht. Aber in den letzten Jahren, insbesondere seit der Entscheidung zur Bankenunion, hat das Bundesverfassungsgericht den Instrumentenkasten zur Herstellung hinreichender demokratischer Legitimation doch noch mal deutlich erweitert.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTOkay, in welcher Form?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Es sagt zum Beispiel, Unabhängigkeit von Behörden ist eine absolute Ausnahme, und ist, so formulieren sie, demokratisch prekär. Aber wir können zusätzlich beitragen zur Stärkung der demokratischen Legitimation, etwa über eine nachträgliche, effektive parlamentarische Kontrolle. Wenn das Parlament, nicht die Regierung, aber das Parlament im Nachhinein, im untechnischen Sinne, beaufsichtigt, was die Behörden machen, und dann zum Beispiel intervenieren kann, indem es die gesetzlichen Parlamentsgrundlagen anpasst, dann ist das auch etwas, was die demokratische Legitimation stärkt. Und das ist etwas, worauf auch der EuGH in dieser konkreten Entscheidung zur Bundesnetzagentur bezuggenommen und gesagt hat, das ist doch möglich. Nachträgliche parlamentarische Kontrolle ist möglich. Und liebe Bundesrepublik, dann müsst ihr das eben machen, wenn euch das ansonsten nicht genügt.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTAlso noch mal zum Verständnis. Das Bundesverfassungsgericht sagt, verfassungsrechtlich ist eine stärkere parlamentarische ex-post Kontrolle möglich, und diese, sagt der EuGH, Grundsätze solltet ihr hier, liebe Bundesrepublik Deutschland, auf den Fall Bundesnetzagentur oder auch andere Regulierungsbehörden in anderen Bereichen übertragen, wenn der Anwendungsbereich eröffnet ist. Das hieße also, man nimmt diese Mittelstufe raus, die wir besprochen haben, der Parlamentsgesetzgeber erlässt die gesetzlichen Regelungen. Es gibt keine Verordnungsermächtigung, keine Berechtigung der Bundesregierung, die Regeln, die die Bundesnetzagentur zu erlassen hat, zu steuern. Aber dafür eine nachträgliche parlamentarische Kontrolle, wenn das Parlament diese Weisungs- und Aufsichtsrechte gewissermaßen ausübt, dem normalerweise, nach unserem Hierarchieverständnis die Exekutive, die übergeordnete … #00:24:31# Bundesregierung ausüben würde.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Ganz genau. Das würde ich alles so unterschreiben. Die einzige Ausnahme ist, die Bezugnahmen zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH, sowie Sie sie jetzt geschildert haben, sind so ausdrücklich nicht. Das ist meine Darstellung des Dialogs gewesen. Der wird nicht ausdrücklich so geführt. Aber man kann das so zumindest erzählen. In der Bankenunion Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht seinerseits auf eine Entscheidung des EuGH zu Datenschutzbehörden vorher Bezug genommen, die auch unabhängig sein sollen, in dem man auch schon gesagt hat, es gibt doch verschiedene Instrumente. Was ich noch interessant finde, dieses Unabhängige Behörden, das ist aktuell der Fall Bundesnetzagentur, vorher war es die Bankenunion, es gibt die Zentralbanken, die Datenschutzbehörden. Das ist eine Entwicklung auf europäischer Ebene, die Forderung nach Unabhängigkeit von Behörden, die sehr stark ist. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Behörden, bei denen die Unabhängigkeit europarechtlich, unionsrechtlich vorgegeben ist. Und eine Frage, die sich mir stellt, ist, wenn wir zunehmend dazu kommen zu sagen, post-hoc parlamentarische Kontrolle ist das Mittel der Wahl, um trotzdem noch demokratische Legitimation sicherzustellen, dann funktioniert das nur, wenn das Parlament auch dazu in der Lage ist, das zu tun. Das ist aber nichts, was wir dem Parlament traditionell als Aufgabe zugewiesen haben. Deshalb würde ich denken, wenn wir das ernsthaft als effektives post-hoc Steuerungsinstrument nutzen wollen, dann müsste man im Parlament auch eine Infrastruktur schaffen, die das ermöglicht. Die haben wir aber bisher nicht. Die Ausschüsse, die wir im Parlament haben, sind klassischerweise keine Ausschüsse, die sich damit beschäftigen, Behördenverhalten zu begleiten. Sondern, die machen die klassische Parlamentsarbeit, zu der wir eben das traditionell nicht gezählt haben. Das gibt es in anderen Staaten, also USA, an denen man sich auch Sachen abgucken könnte. Und man kann natürlich darüber streiten, und ich finde, man sollte darüber streiten, ob das eine Aufgabe ist, die das Parlament übernehmen sollte. Wenn man der Meinung ist, dass das Parlament das nicht tun sollte, dann muss man aber auf europäischer Ebene schon ansetzen und sagen, wir wollen diese Unabhängigkeitsgarantien nicht im Unionsrecht. Wenn man das mit verhandelt und, zugegeben, vom EuGH zum Teil weit interpretiert, aber mitverhandelt und mitträgt, dann muss man sich hinterher überlegen, und das ist eine allgemeine Entwicklung, ob man so eine Struktur schafft, und wie die aussehen könnte, was für Informationsrechte, was wir Fragerechte? Wie soll das Parlament auf Fehlverhalten reagieren? Welche Personen machen das? Und so weiter und so fort. Das ist, glaube ich, eine Diskussion, die ich für wichtig halte, wenn man das ernst nimmt, dass das auch effektiv sein soll und wir es nicht einfach nur hinschreiben und sagen, wir geben dem Parlament ein Fragerecht, das aber nie jemand ausübt.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTDas würde dann auch wiederum in der Anwendung an die Grundfesten der demokratischen Legitimation gehen, denn das Bundesverfassungsgericht sagt, aus verfassungsrechtlicher Sicht ist nicht die Form der Legitimation staatlichen Handelns entscheidend, sondern die Effektivität.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Ganz genau.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTWenn ich jetzt irgendeine neue Form schaffe, fair enough, dann kann ich das machen. Aber wenn die nicht sicherstellt, dass die Legitimation auch durchgehalten wird, dann bricht sie in sich zusammen.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Ganz genau.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTUnd das Legitimationsniveau bricht dann ab. Das ist super spannend, weil wir uns letztenendes der Frage nähern, führt das zu einem so handfesten Konflikt zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht? Vielleicht ist das auch eine ein bisschen dramaturgisch aufgeladene Frage, aber ich stelle sie trotzdem. Kommen wir zu einem Konflikt zwischen Verfassungs- und Unionsrecht kommen, der an die Grundfesten unserer Verfassungsordnung stößt, und wir uns dann die Frage stellen müssen, überschreitet damit das Unionsrecht den Rahmen, den das Verfassungsrecht in Deutschland noch für sich reklamiert? Wie würden Sie das sehen? Gibt es hier einen Punkt, wo man sagen müsste, die Entwicklung hin zu dieser Unabhängigkeit, hat so eine starke Zugkraft, dass wir möglicherweise in diese Konfliktlage kommen?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Also anlässlich dieser Entscheidung zur Bundesnetzagentur hat man darüber auch diskutiert. Ich selber glaube nicht, dass diese Entscheidung dazu führt, dass es (?bei einer Identitätskontrolle) dazu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht sagen würde, das ist jetzt 79,3 in Verbindung mit 20. das glaube ich nicht. Warum glaube ich das nicht? Weil wir in Deutschland Möglichkeiten haben, obwohl oder auch dann, wenn wir die Anforderungen des EuGH und der Unabhängigkeitsgarantie beachten, ein hinreichendes Legitimationsniveau zu sichern. Das ist möglich, ohne Verstoß gegen das Unionsrecht, zum Beispiel, indem man die parlamentarische Kontrolle weiter effektuiert. Das, würde ich aber sagen, ist auch zumindest mal angezeigt. Das alles zusammengenommen, glaube ich, können wir schon ein Legitimationsniveau sichern, was zumindest unseren absoluten Basisanforderungen genügt. Das ist das Eine. Dann ist aber vielleicht auch fast eher rechts- und verfassungspolitisch die Frage, wie man damit zukünftig umgeht. Ob man dann noch mal grundsätzlicher darüber nachdenkt, wie man parlamentarische Kontrolle ausgestalten kann. Nachdenken über so etwas ist immer gut. Ich würde denken, das ist angezeigt, einfach weil es eine Entwicklung ist, die übrigens in vielen anderen Mitgliedsstaaten auch gar keine Probleme bereitet. Viele, die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind ganz vertraut mit unabhängigen Behörden. Österreich hat noch eine ähnliche Konzeption wie wir in Deutschland. Aber das ist schon auch etwas spezifisches bei uns. Und da finde ich, könnte man überlegen, ob man das anders institutionell unterstützen muss, mit einer anderen institutionellen Infrastruktur.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTEs gibt zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist, das zu machen, was der EuGH sagt. Nämlich die Unabhängigkeit der Behörde zu steigern, und das setzt Perspektive des EuGH voraus, dass die Bundesregierung nicht mehr befugt ist, über Rechtsverordnungen das Handeln der Bundesnetzagentur im Wesentlichen vorzugestalten. Das ist die Ansicht des EuGH.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Genau.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTUnd wenn man dem jetzt folgen würde, hätte man die unionsrechtlichen Anforderungen erfüllt, müsste aber aus deutscher verfassungsrechtlicher Perspektive, wie Sie gerade geschrieben haben, demokratielegitimationsrechtlich nachjustieren.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Genau.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTMeine Frage wäre, ob es nicht auch eine andere Möglichkeit gäbe, um die Anforderungen des Unionsrecht und des deutschen Verfassungsrechts einzuhalten. Nämlich den grundsätzlichen Ansatz, den wir in unserem Hierarchiemodell nach deutschem Verfassungsrecht haben, aufrechtzuerhalten. Also weiterhin diese Kette aufrechtzuerhalten. Aber zugleich die Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur auf andere Art und Weise zu steigern.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Im Prinzip könnte man sich das vorstellen. Aber in diesem konkreten Fall sieht das Unionsrecht vor, dass die Bundesnetzagentur diese inhaltlichen Entscheidungen treffen soll, als unabhängige Behörde. Das heißt, wir können nicht sagen, wir steuern das war inhaltlich detailliert, aber dafür, was weiß ich, machen wir einen Ernennungsprozess, der besonders gesichert ist oder gar keinen. Also wir geben der Bundesnetzagentur einen Haushalt, den sie über zehn Jahre hat, und nehmen damit Einflussmöglichkeiten raus. Das ginge nicht, weil nach Verständnis des EuGH die Bundesnetzagentur die Möglichkeit haben muss, die Bedingungen für die Bestimmung der Netzentgelte selbst festzulegen. Diese Aufgabe sie unabhängig erfüllen. Das heißt, es gibt diese Verbindung zwischen der Aufgabe, die der Bundesnetzagentur vorbehalten ist, und der Unabhängigkeitsgarantie. Und man kann dem nicht ausweichen, indem man sagt, die Bundesnetzagentur ist unabhängig, nur reduzieren wir einfach ihren Aufgabenbestand gegen null, und dann ist alles demokratisch rein. So geht es nicht.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTMan muss bei diesem ganzen Kontext ja mitberücksichtigen, dass, wie Sie es gerade angedeutet haben, auch die Mitgliedstaaten, in dem Fall auch Deutschland, beteiligt sind an dem Prozess zum Erlass der unionsrechtlichen Regeln, über das europäische Gesetzgebungsverfahren. Das wird in den Diskussionen vielleicht manchmal außer Acht gelassen. Als würde jetzt die Union kommen und hier eine Regelung für Deutschland fassen, die Deutschland Aufgaben und Regulierungen und Organisationen aufbürdet, die Deutschland so nie gewollt hat. Ich glaube, das ist für das Verfassungs- und Unionsrecht … #00:33:18# ist ganz hilfreich, dass Deutschland ja über seine Mitgliedschaft in der Europäischen Union, die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Mitgliedschaft, dort auch mitentscheidet.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Ganz genau. Das ist natürlich ein wesentlicher Teil der demokratischen Legitimation, die in den europäischen, also in den unionsrechtlichen Regeln steckt, dass sie von den Mitgliedstaaten ausgehandelt, mitgetragen und beschlossen werden und nicht von einem imaginierten, omnipotenten, von den Mitgliedsstaaten nicht zu beeinflussenden europäischen Rechtssetzer. So ist es nicht.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTUnd zugleich hat die Regelung auch den Zweck, in allen Mitgliedstaaten in gleichem Maße Wirkung zu entfalten. Und das ist bei unionsrechtlichen Themen ganz spannend, dass wir aus unserer oft noch sehr nach innengekehrten, verfassungsrechtlichen Perspektive vielleicht manchmal außer Acht lassen, das ist eine Regelung ist, die den gesamten europäischen Verfassungsraum, mit seinen Verfassungstraditionen von allen Mitgliedstaaten, ausfüllen und steuern soll. Und dann gibt es vielleicht auch Mitgliedstaaten, in denen die Gefahr einer politischen Einflussnahme auf Regulierungsbehörden noch mal größer ist. Aber vielleicht ist Deutschland auch ein guter Anwendungsfall. Das würde diesen Fall sprengen. Aber wir haben in Deutschland ja intensiv über Fragen der Rechtskontrolle bei Regulierungsbehörden, beispielsweise der Bafin im Wirecard-Skandal, diskutiert. Also das Thema der Effektivierung von Regulierungsbehörden auf der einen Seite, und der politischen Unabhängigkeit auf der anderen Seite, ist ein handfestes Thema, was wir als Gesellschaft und als Mitgliedstaaten in die Tat umsetzen müssen.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Ja, in der Tat. Das war, nach meiner Wahrnehmung, der letzte praktische Anwendungsfall, in dem die Frage sehr intensiv diskutiert wurde, was hat eigentlich die Finanzaufsicht für Defizite hatte, die sich im Wirecard-Skandal gezeigt haben? Und ist die fehlende Unabhängigkeit ein Problem? Die Bankenaufsicht ist jetzt schon garantiert europarechtlich unabhängig, aber die Kapitalmarktaufsicht eben noch nicht. Und es gibt schon, finde ich, auch gute Gründe für die Unabhängigkeit. Das wäre, wenn ich eine These oder eine Take-Home-Message formulieren sollte, wäre das, es ist ambivalent. Es ist gibt Dinge, die dafür sprechen, und die man über Unabhängigkeit erreichen kann. Eben das Abschirmen gegenüber relativ kurzfristigen, politischen Interessen. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Wir haben bei Unabhängigkeit immer über Unabhängigkeit gegenüber staatlichen Institutionen gesprochen. Es geht ja auch um die Gewährleistung von Unabhängigkeit gegenüber anderen privaten Akteuren. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt. Das ist, glaube ich, schon etwas, was ein wertvolles Gut ist. Ein Bereich, in dem Unabhängigkeit auch intensiv diskutiert wird, und bei dem ich auch keine abschließende Meinung habe, aber es interessant finde, darüber nachzudenken, ist in allen Bereichen, in denen es um Klimaschutz geht. Es gibt zum Beispiel immer wieder Forderungen, Nachhaltigkeitsräte, die wir als solche ja schon kennen, nicht nur als beratende Gremien in den Gesetzgebungsprozess einzubinden, sondern denen Vetorechte oder jedenfalls weitergehende Interventionsrechte einzuräumen. Mit derselben Idee. Langfristiges Denken, unabhängig von politischen, kurzfristigen Interessen. Ähnliche Argumente, wie auch in diesem Bereich. Und ähnliche Gegenargumente. Geringere Rückbindung kann auch dazu führen, dass es zu geringerer Akzeptanz führt. Gleichzeitig kann es aber auch dazu führen, dass es das einzige Instrument ist, um, das war auch etwas, was der EuGH in dieser Entscheidung gesagt hat, eine langfristige Perspektive einzunehmen. Also es ist, glaube ich, ein Thema oder ein Konflikt, einerseits Unabhängigkeit, demokratische Rückbindung und Steuerungsmöglichkeiten, Möglichkeit abzuwählen andererseits, der sich in vielen Rechtsbereichen zeigt und zunehmend zeigen wird. Das ist zumindest mein Eindruck. Und für den gibt es auch, glaube ich, keine Patentlösung. Außer, dass es ein wichtiger Teil wäre, sich, wenn man über die unterschiedlichen Legitimationsinstrumente nachdenkt, ehrlich zu machen, wenn man so will, und sich darüber Rechenschaft ablegt, wie effektiv sie sind und wie man die Effektivität gegebenenfalls steigern kann.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTWir oszillierenden ja, gerade auch in der öffentlichen Diskussion in Deutschland ist das gut zu beobachten, zwischen dem Wunsch, jemanden zu wählen, der dann so entscheidet, wie wir das gewollt haben auf der einen Seite, und dem Wunsch nach einer Entscheidung auf Grundlage von Expertenwissen, von wirklichem Fachwissen. Im Idealfall kulminiert das in der Verwaltung. Und Sie und ich kennen viele sehr talentierte Juristinnen und Juristen, die in den Verwaltungen, beispielsweise in Bundesministerien, genau das tun, oder versuchen, das zu tun, nämlich die politische Tätigkeit, die von der politischen Führung vorgegeben wird, in gutes Recht zu gießen. Und das mit Fachkenntnis zu füllen und entsprechend diesem doppelten Ziel gewissermaßen Rechnung zu tragen. Aber zugleich, wie Sie es am Beispiel Klimaschutz beschrieben haben, gibt es diese anderen Konflikte. Wir haben einen Wunsch, wir wollen diese Klimakrise endlich in den Griff kriegen, und haben die Sorge, dass die politische Rücksichtnahme auf Bremser und Bremserinnen das behindert. Das ist aber wahrscheinlich eine Grundherausforderung in demokratischen Gesellschaften, dass der Prozess auch langwierig ist, dass die Geschwindigkeit, die wir uns oft wünschen, gerade auf schwierige Herausforderungen schnell zu reagieren, effektiv zu reagieren, dadurch eingeschränkt wird.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Genau. Ich teile das, was Sie gesagt haben und habe das nur deshalb noch mal so hervorgehoben, weil, an solchen Entscheidungen wie die, über die wir heute gesprochen haben, sich dieser Konflikt zeigt und sich spiegelt und sich versteckt in vermeintlich ganz kleinteiligen, technischen Regelungen. Und dahinter steht aber dieser Großkonflikt, den Sie gerade beschrieben haben, der auch nicht in die eine oder andere Richtung aufzulösen ist. Das ist ja das, was es so schwierig macht. Man kann nicht sagen, im Zweifel machen wir das eine oder das andere. Aber das ist Demokratie. Und das ist eben ein Wert an sich. Und das ist, selbst wenn man nur an die effektive Problemlösung denkt, wichtig zu bedenken, weil auch eine schnell getroffene Entscheidung, wenn man sie nicht umsetzen kann oder sie auf erhebliche Widerstände stößt, wir substantielle Probleme haben.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTJa, absolut. Zum Abschluss des Gesprächs möchte ich mit Ihnen noch einen kurzen Blick auf die Frage werfen, welche längerfristigen Auswirkungen diese Entscheidungen, über den konkreten Entscheidungsgegenstand hinaus, aus Ihrer Sicht haben wird?

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Ich glaube, das, was diese Entscheidung besonders macht, und was sie zum Referenzpunkt auch weitere Entscheidungen und Bemühungen macht, ist die Annahme, dass Behörden ihrem Aufgabenbereich, wenn sie Unabhängigkeit genießen, nicht nur vor Weisungen von übergeordneten Behörden oder einer Regierung geschützt sind, sondern auch gegenüber Einflussnahme, die in der Form des Gesetzes erfolgt, wie eben bei uns durch Rechtsverordnung. Das ist neu. Und diese Formulierung, so sagt es der EuGH, vollständige Unabhängigkeit auch gegenüber dem Gesetzgeber, hat alle aufhorchen lassen. Sie wird in ihrer Tragweite dadurch eingeschränkt, dass es Unabhängigkeit im Rahmen das Aufgabenbereichs ist, der hier eben Anwendung der allgemeinen Prinzipien des Unionsrechts ist. Aber sie ist schon bemerkenswert. Und ich glaube, das ist das, was diese Entscheidung besonders macht. Und das wird sicherlich in Dialogen mit anderen Höchstgerichten weitergehen, und man wird sich darüber austauschen, was eigentlich Unabhängigkeit bedeutet und wem gegenüber sie alles zu gewährleisten ist.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERTLiebe Frau Professorin Kaufhold, haben Sie vielen Dank für dieses nachdenkliche, anregende und engagiert geführte Gespräch und die Diskussion. Ich finde es besonders spannend, wie Sie aufzeigen konnten, welche weitreichenden Wirkungen eine doch so technisch anmutende Entscheidung hat, und bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie Ihre Zeit mit uns geteilt haben.

PROF. ANN-KATRIN KAUFHOLD: Sehr gerne. Es hat mir viel Freude gemacht und es war auch für mich ein ganz anregendes, interessantes und weiterhin auch nachdenklich-machendes Gespräch. Es freut mich, wenn vielleicht die eine oder der andere diese technische Entscheidung damit noch mal durch eine andere Brille sieht.

Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Danke schön.

Erwähnte Gerichtsentscheidungen

Das Urteil des EuGH vom 02.09.2021 im Original findet ihr hier. Jurafuchs ist die digitale Lernplattform für Jurastudentinnen, Rechtsreferendare und juristische Professionals. Unsere Expertinnen und Experten stellen für euch zusammen, was ihr für Studium, Referendariat und die beiden Staatsexamina wissen müsst und was ihr in der Praxis braucht. 

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