Jurafuchs Podcast #017 | Kann die Ukraine sich gegen den russischen Angriff unter Berufung auf die Völkermordkonvention wenden? | IGH, Beschluss über vorläufige Maßnahmen vom 16.03.2022
Zusammenfassung
Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat am 16.03.2022 eine bemerkenswerte Entscheidung getroffen. Der IGH hat Russland verpflichtet, die am 24. Februar 2022 begonnenen militärischen Operationen im Gebiet der Ukraine unverzüglich einzustellen. Diese und weitere Anordnungen ergingen als einstweilige Anordnung (provisional measures), die die Ukraine gegen Russland unter Berufung auf die Völkermordkonvention angestrengt hat. Die Entscheidung kommt einer kleinen Sensation gleich.
Professorin Paulina Starski, Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsches und ausländisches Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Senior Research Affiliate am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, sowie Friedrich Arndt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl, erläutern diese Entscheidung:
- Welche Aufgabe kommt dem Internationalen Gerichtshof zu und für welche Verfahren ist der IGH zuständig?
- Worauf gründet sich die Zuständigkeit des IGH im vorliegenden Fall?
- Was macht der IGH im Rahmen eines Verfahrens zum Erlass einer einstweiligen Anordnung (provisional measures)?
- Warum geht es im vorliegenden Verfahren nicht darum festzustellen, dass der russische Angriffskrieg gegen das Gewaltverbot (Art. 2 Abs. 4 UN-Charta) verstößt?
- Welches Recht der Ukraine auf Grundlage der Völkermordkonvention soll durch die einstweilige Anordnung des IGH geschützt werden?
- Welche Bedeutung kommt der Entscheidung zu, wenn Russland sich weigert, der Anordnung nachzukommen?
- Wann ist mit der Entscheidung in der Hauptsache zu rechnen und wie wird der IGH in der Hauptsache voraussichtlich entscheiden?
Interview (Transkript)
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif, dem Rechtssprechungspodcast von Jurafuchs in Kooperation mit dem Nomos-Verlag. Mein Name ist Wendelin Neubert und zusammen mit meinen Gästen gehe ich dem Kontext und den Hintergründen aktueller Gerichtsentscheidungen auf die Spur.
PROF. PAULINA STARSKI: In einer 13-zu-zwei-Entscheidung ist dort festgestellt worden, dass die Russische Föderation unverzüglich die am 24. Februar 2022 begonnenen, militärischen Operationen auf dem Gebiet der Ukraine einzustellen hat. Wir haben die geballte Gewalt des Rechts, das auf der Seite der Ukraine steht.
FRIEDRICH ARNDT: Das ist der kleine Beitrag, den das Völkerrecht ohne jegliche politische Reaktion im Sicherheitsrat oder ohne Staatengemeinschaft leisten kann.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Meine Gäste sind Professorin Paulina Starski und Friedrich Arndt. Paulina Starski ist Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsches und Ausländisches Öffentliches Recht in Europa und Völkerrecht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Senior Research Affiliate am Max-Planck-Institut für Ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Friedrich Arndt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl von Frau Professorin Starski. Seien Sie beide herzlich willkommen! Wir sprechen über eine kleine, völkerrechtliche Sensation. Am 16. März 2022 hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag angeordnet, dass Russland seine militärischen Operationen auf dem Hoheitsgebiet der Ukraine unverzüglich einzustellen hat. Liebe Frau Professorin Starski, könnten Sie bitte zum Eingang des Gesprächs einmal erläutern, welches Ziel die Ukraine mit ihrer Klage gegen Russland vor dem Internationalen Gerichtshof verfolgt hat?
PROF. PAULINA STARSKI: Vielen Dank für diese Frage. Also ich glaube, wir können zum einen differenzieren zwischen dem eigentlichen, rechtlichen Nahziel auf der einen Seite und auf der anderen vielleicht weiteren, völkerrechtspolitischen, strategischen Überlegungen seitens der Ukraine. Also im Hauptacheverfahren möchte die Ukraine rechtlich feststellen lassen, dass Russland basierend auf der Völkermordkonvention keine rechtliche Grundlage hat, um gegen die Ukraine zur Verhinderung eines angeblichen Genozids vorzugehen. Es geht also auch hier um eine gewisse Manipulation des Völkermordbegriffs seitens der russischen Seite. Inzident wird natürlich die beispiellose Aggression der russischen Föderation gegen die Ukraine zum Gegenstand dieses Verfahrens gemacht. Und dieser prozessuale Zugriff auf den IGH muss als ein außerordentlich kreativer Zugriff seitens der Ukraine eingeordnet werden. Wenn es jetzt um das Völkerrechtspolitische geht, dann ist vielleicht zu berücksichtigen, wir haben ja hier, und darüber reden wir, den Beschluss vom 16. März 2022. Da geht es ja um die sogenannten provisional Measures, das heißt, vorsorgliche Maßnahmen. Bedeutet, da steigt der IGH, wir werden die Details gleich noch hören, jetzt nicht in eine Detailprüfung ein, aber ist zu sehr weitreichenden Anordnungen gekommen. Wenn wir uns das anschauen, in einer 13-zu-zwei-Entscheidung ist dort festgestellt worden, dass die Russische Föderation unverzüglich die am 24. Februar 2022 begonnenen, militärischen Operationen auf dem Gebiet der Ukraine einzustellen hat und sicherzustellen hat, dass weder militärische noch von Russland kontrollierte, irreguläre Verbände weitere Schritte zur Vollziehung der eben genannten, militärischen Operationen ergreift. Wenn wir uns diese beiden Anordnungen anschauen, gegen das Votum der Richterin (?Xue) aus China und des Richters (?Geworgjan), #00:03:22# dann sehen wir, dass hier eine eigenständige, völkerrechtliche Verpflichtung begründet wird auf Seiten der Russischen Föderation, aufzuhören mit dieser militärischen Operation basierend auf dem Beschluss. Also wir haben hier eine Verdopplung der Verpflichtung, wenn man so möchte, im Völkerrechtlichen. Und das ist natürlich sehr wichtig in der aktuellen Situation, wo es darum geht, so schnell wie möglich vorzugehen gegen diese russische Aggression.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja, vielen Dank für diese erste Einordnung. Da war jetzt schon wahnsinnig viel drin, nämlich also sowohl das, was die Ukraine verfolgt, aber auch das, was der IGH konkret gesagt hat und die völkerrechtspolitische Einordnung. Lassen Sie uns dabei nochmal einen Schritt zurücktreten und fragen, wie konnte der IGH zu dieser Entscheidung kommen und wie ist sie einzuordnen? Vielleicht könnten Sie uns dafür erst noch einmal einen Überblick darüber geben, welche Aufgabe dem Internationalen Gerichtshof in der Internationalen Gerichtsbarkeit eigentlich zukommt.
FRIEDRICH ARNDT: Ich würde einmal ganz am Anfang anfangen, wo der IGH überhaupt zu verorten ist. Da gibt uns Artikel 92 der UN-Charta ein bisschen den Hinweis. Artikel 92 spricht vom IGH als dem Hauptrechtssprechungsorgan der Vereinten Nationen. Und der IGH ist für die ganzen anderen Organe, Suborganisation, Sonderorganisation der Vereinten Nationen der Hauptansprechpartner für völkerrechtliche Fragestellungen. Das heißt, die können sich zum Beispiel mit Gutachtenbegehren nach Artikel 96 der Charta an den IGH wenden und bekommen dann dort praktisch völkerrechtliche Rechtsberatung im weitesten Sinne. Jetzt könnte man den IGH als Hauptrechtssprechungsorgan der Vereinten Nationen, in denen alle Staaten der Welt praktisch organisiert sind, auch natürlich als eine Art Weltgericht verstehen, also als ein Gericht, das für die völkerrechtlichen Streitigkeiten dieser Staaten, die eben Teil der Vereinten Nationen sind, zuständig ist und diese Streitigkeiten letztlich löst und beilegt. Dafür spricht erst einmal auch Artikel 93, der in Absatz 1 sagt: Alle Mitglieder der Vereinten Nationen sind automatisch auch Mitglieder dieses Statuts dieses Gerichtshofs. Das wäre aber ein bisschen kurz gegriffen.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das heißt, wenn ich Sie da jetzt richtig verstehe, dass der IGH als Weltgericht sozusagen gar nicht zuständig ist für alle völkerrechtlichen Streitfrage zwischen Staaten.
FRIEDRICH ARNDT: Nicht grundsätzlich. Also, es gibt keine generelle Zuständigkeit für einen sachlichen Bereich, wie wir das von nationalen Gerichten oder manchen überstaatlichen Gerichten auch kennen. Stattdessen ist es so, dass jeder einzelne Streitfall, jeder Sachverhalt, jede Angelegenheit, so spricht das Statut, von den Streitparteien dem IGH selbst unterbreitet werden muss. Das gibt es unterschiedliche Modi, auf die wir vielleicht noch einmal zurückkommen werden. Aber grundsätzlich geht ohne den Konsens, ohne die Zustimmung der Streitparteien vor dem Internationalen Gerichtshof erst einmal gar nichts.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Was sind denn solche Zustimmungen? Also ich kann mir vorstellen, wenn zwei Parteien sich streiten und beide Staaten sagen: „Wir erkennen den Internationalen Gerichtshof für zuständig“, dass dann eine solche Zuständigkeit begründet ist. Was sind denn andere Konstellationen, in denen wir eine solche Zuständigkeit haben?
FRIEDRICH ARNDT: Auch da gucken wir als gute Juristen in die Normen, in 36 und finden in Absatz 1 genau das, was Sie gerade schon genannt haben. In der ersten Alternative finden wir in 36 Absatz 1 des IGH-Statuts die Ad-hoc-Unterbreitung. Das heißt, Staaten, wie sie gerade formuliert haben, haben einen Streit und entscheiden sich, das lösen wir vor dem IGH, machen ein Agreement, wo man sich über die Eckpunkte des Streits einigt, was genau von der Jurisdiktion des Gerichts, von der Zuständigkeit des Gerichts umfasst sein soll. Und dann verweist man das an den IGH. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, wie Sie schon impliziert haben. In Absatz 2 zum Beispiel gibt es die Möglichkeit einer generellen Unterwerfungserklärung. Das heißt, Staaten akzeptieren grundsätzlich diese grundsätzliche Zuständigkeit des IGHs für alle völkerrechtlichen Fragen, die wir vorhin gesagt haben, die es eigentlich nicht gibt. Das können Staaten aus ihrer Machtvollkommenheit heraus durchaus freiwillig eingehen. Diese Unterwerfungserklärungen sind aber grundsätzlich nicht absolut, sondern beruhen auf dem Grundsatz der Reziprozität. Das heißt, diese Unterwerfung gilt nur gegenüber anderen Streitparteien, die auch eine solche Unterwerfungserklärung abgegeben haben. Das heißt, Deutschland als Land, das eine solche Erklärung abgegeben hat, könnte andere Staaten, Portugal zum Beispiel jetzt als völlig frei herausgegriffenes Beispiel, verklagen und von Portugal verklagt werden, nicht aber zum Beispiel von Frankreich, die keine solche Erklärung unterbreitet haben. Die letzte, ich glaube, auch heute noch relevanteste Möglichkeit ist, dass eine entsprechende Verweisung eines Streitstands in der UN-Charta oder in einem anderen völkerrechtlichen Vertrag ausdrücklich vorgesehen ist, die im Vertrag selbst Streitstände über Auslegung, Anwendung und so weiter des Vertrags an den IGH beweist, dies auch sachlich, zementiert auf den Vertrag, aber dann eben zwingend dafür, wenn eine Streitpartei diese Klausel eben aufgreift.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also nur, um diesen Aspekt noch einmal zu verstehen, wir haben einen völkerrechtlichen Vertrag, beispielsweise über ein bestimmtes Thema. Und die Vertragsparteien, also die Staaten, die diesen Vertrag ratifiziert haben, die dem beigetreten sind, die haben jetzt in diesem Vertrag entschieden, dass Streitfragen, die sich im Anwendungsbereich dieses Vertrags bewegen, vom Internationaler Gerichtshof entschieden werden sollen und sind denn auch für diese Streitfragen der Zuständigkeit des Internationaler Gerichtshofs unterworfen. So, und wir haben hier einen solchen Fall. Vielleicht können wir da noch einmal anknüpfen. Was ist jetzt hier die Zuständigkeitsnorm? Und wie kommt es dazu, dass der Internationale Gerichtshof seine Zuständigkeit hier annimmt?
PROF. PAULINA STARSKI: Genau, und das ist sozusagen die Crux des Falls beziehungsweise der Ausgangspunkt, um die Zuständigkeit des IGHs konkret zu begründen. Wenn wir uns nämlich die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords anschauen, die sogenannte Völkermordkonvention, in Kraft getreten 1951, mittlerweile 142 Vertragsparteien haben wir, 42 weitere Staaten haben sie unterzeichnet. In dieser Völkermordskonvention finden wir zum einen die Definition des Völkermordes. Und sowohl die Russische Föderation als auch die Ukraine sind Vertragsparteien. Und dort finden wir den Artikel 9. Und was sagt uns jetzt der Artikel 9? Das ist ja das Interessante, der sagt uns, dass Streitfälle zwischen den vertragschließenden Parteien hinsichtlich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung dieser Konvention einschließlich derjenigen, die sich auf die Verantwortlichkeiten des Staates für Völkermord oder eine der sonstigen und so weiter aufgeführten Handlungen beziehen, werden auf Antrag einer der an dem Streitfall beteiligten Parteien dem Internationalen Gerichtshof unterbreitet. Und dieses, dem Internationalen Gerichtshof unterbreitet, führt uns dann in die Zuständigkeit des IGH, so denn die Voraussetzungen dieser Klausel gegeben sind.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist natürlich total interessant, weil wir hier eine Konvention haben, die, wie Sie es beschrieben haben, fast universell anerkannt ist und sehr viele Staaten dieser Konvention beigetreten sind, damit also auch dieser Zuständigkeitsregelung unterworfen sind. Aber jetzt hat die Ukraine zum Zeitpunkt der Klageerhebung, also ganz zu Beginn des Krieges im Februar 2022 ja nicht vorgetragen, dass Russland hier gegen diese Völkermordkonventionen verstößt, beispielsweise einen Völkermord begangen habe. Was hat die Ukraine stattdessen vorgetragen, um diese Zuständigkeit zu begründen?
PROF. PAULINA STARSKI: Ja, und da liegt die besondere Kreativität dieses Verfahrens. Man muss vielleicht allgemein sagen, so ein bisschen Meta-Perspektive hineinbringen, dass die Ukraine an vielen Punkten, hat man das Gefühl, auch rechtlich exzellent beraten wird und sozusagen diesen Konflikt versucht, auch rechtlich lösen zu lassen, aber sie da natürlich gewisse Zugriffspunkte braucht an den entscheidenden Institutionen. Und diese Argumentation, die hier entfaltet wurde, ist folgende: Es geht nämlich nicht darum, dass die Gewaltanwendung Russlands ein Genozid darstellt an der ukrainischen Bevölkerung. Das wäre eine Möglichkeit der Argumentation gewesen. Das ist aber eine sehr schwache Argumentation, weil der IGH oftmals festgestellt hat, dass die bloße Anwendung, die Übung von Gewalt gegen einen Staat, und da sind natürlich auch Menschen betroffen, Menschen sterben durch diese Gewaltanwendung, das ist nicht automatisch gleichzusetzen mit dem Genozid, der nämlich erhebliche Anforderungen, erhebliche Bedingungen müssen erfüllt sein. Eine besondere, sogenannte genocided Intent muss gegeben sein. Das ist relativ schwer nachzuweisen. Das heißt, das hätte der IGH wahrscheinlich sehr schnell, obwohl wir in dem Provisional-Measures-Verfahren sind, zur Seite gewiesen. Sondern es wird argumentiert, dass die Russische Föderation der Ukraine vorwirft, Genozid zu begehen an der russischstämmigen Bevölkerung in der Ukraine, und basierend auf dieser Argumentation auch diese militärische Intervention legitimiert. Das heißt, das, was die Ukraine hier geltend macht, ist erstens, ich begehe keinen Völkermord als Ukraine. Und zweitens, es existiert kein Recht der Russischen Föderation, vorzugehen gegen mich auf einem geltend gemachten Völkermord, der nicht existent ist, und auch insbesondere nicht militärisch vorzugehen. Das heißt, die Klägerseite, die Ukraine macht geltend, sie verletzt das Völkerrecht nicht. Und insofern bestehe auch keine Berechtigung, militärisch zu intervenieren, um einen Genozid zu unterbinden auf Seiten der russischen Seite.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist ja total interessant. Denn die Ukraine greift damit ja einen Argumentationsstrang auf, den Russland vorgebracht hat, nämlich Russland hat sich ja explizit auf völkerrechtliche Rechtfertigungen bezogen. Und da knüpft jetzt die Ukraine an, wie sie es gerade beschrieben haben. Das ist ja total interessant.
PROF. PAULINA STARSKI: Das ist superspannend. Also, wenn Staaten handeln, und sogar Russland, und Russland steht ja auch ganz eindeutig außerhalb der Grundfesten der Völkerrechtsgemeinschaft, gerade mit dem Vorgehen, ja? Aber auch Staaten, die handeln und die auch illegal handeln, machen immer Rechtsbehauptungen gelten, sogenannte Legality Claims. Das heißt, sie handeln, sie behaupten, legal zu handeln, im Einklang mit dem Völkerrecht zu handeln. Und man kann sagen, dass wir hier so drei Stränge haben, wie die Russische Föderation gerade argumentiert. Das Erste ist das Selbstverteidigungsrecht. Ich verteidige mich selbst gegen eine Bedrohung beziehungsweise ich eile den anerkannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu Hilfe und verteidige mich gegen einen Angriff, verteidige diese gegen einen Angriff der Ukraine. Das Zweite, was mitschwingt, und das ist der Kern dieses Falls, ist diese Idee, ich interveniere aus humanitären Gründen, denn ich schütze einen Bevölkerungsteil vor einem Völkermord, die sogenannte humanitäre Intervention. Und das Dritte ist so ein bisschen keine richtige Rechtsbehauptung, aber so, das schwingt bei Putin immer wieder mit, der Westen hat sich nicht völkerrechtskonform verhalten in vielen Fällen und jetzt komme ich. Das können wir schnell von der Seite weisen. So, jetzt wird es aber noch ganz spannend. Denn wir haben diesen Dreiklang dieser Argumentationslinien. Und man konnte einen Wechsel jetzt in der Fokussierung der Russischen Föderation feststellen. Denn die berufen sich jetzt primär auf Artikel 51 der UN-Charta, das Selbstverteidigungsrecht, und sagen, es geht hier um die Selbstverteidigung. Artikel 51 greift hier. So, und das hat aber die IGH in dem Beschluss auch nicht abgenommen. Sondern sie hat sich ganz genau angeschaut, an wie vielen Punkten von Hoheitsträgern Russlands, nicht zuletzt Putin in seinen Reden vom 21. Februar und vom 24. Februar, auf einen angeblichen Genozid Bezug genommen (?wurde). Und da sagt die IGH ganz klar, diese Rechtsbehauptung wurde angebracht seitens der russischen Seite. Und die erlaubt der Ukraine diesen Zugriff über die Völkermordkonvention. Also, diese Legality Claims kommen immer! Und das spricht ja auch für die Funktionalität der Völkerrechtsordnung, dass Staaten immer sich auf diese Referenzordnung berufen, selbst wenn sie diese pervertieren, was ja im Fall der russischen Aggression jetzt gerade vonstattengeht.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Total spannend. Lassen Sie uns noch kurz einen Blick auf die verfahrensrechtlichen Konstellationen werfen.
PROF. PAULINA STARSKI: Wichtig ist, dass wir uns vor Augen führen, in welcher Phase des Verfahrens wir hier sind. Es gibt ein Hauptsacheverfahren, das angestrengt wurde seitens der Ukraine. Und was die Ukraine jetzt begehrt hat, sind vorsorgliche Maßnahmen. Das heißt, der IGH kann einen Beschluss fassen und Anordnungen treffen, um ein Recht zu sichern in einer Situation, in der es sozusagen bedroht ist. Und da die Anforderungen, die ja gegeben sein müssen, damit es zu diesem Beschluss kommt, zu dem es jetzt gekommen ist, das ist ja genau diese Entscheidung von dem 16. März, sind niedriger als im Hauptsacheverfahren.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Könnten Sie vielleicht kurz die Voraussetzungen dieses Verfahrens erläutern?
FRIEDRICH ARNDT: Grundsätzlich ist die zentrale Voraussetzung erstmal, dass wir prima facie auf den ersten Blick eine Zuständigkeit des Gerichts für die Hauptsache haben. Prima facie ist ein sehr abgesenkter Maßstab. Zweite zentrale Voraussetzung ist, dass Rechte geltend gemacht werden, die zumindest plausibel erscheinen. Der Plausibilitätsmaßstab ist in seinen Details umstritten, meint aber letztlich eine Art substanziiertem Vortrag zur Existenz eines gewissen Rechts und die Möglichkeit, unter Voraussetzung, dass die vorgebrachten Fakten zutreffen, dieses Recht durch den beklagten Staat auch verletzt sein könnte. Zu diesen zwei zentralen und meist schwierigen Voraussetzungen auch im vorliegenden Fall, schwierigen Voraussetzungen, treten noch technische hinzu, insbesondere dass ein hinreichender Zusammenhang zwischen den beantragten Maßnahmen und dem geltend gemachten Recht des Hauptsacheverfahrens besteht und dass es ein Risiko unumkehrbarer Nachteile für diese Rechte gibt und darin begründet eine Dringlichkeit der Anordnung von schützenden Maßnahmen für diese betroffenen Rechte.
PROF. PAULINA STARSKI: Das heißt, was hier ausreichend ist, war darzulegen seitens der Ukraine, dass hier prima facie Gerichtshoheit Jurisdiktion besteht. Und der IGH hat jetzt prima facie seine Zuständigkeit geprüft und gesagt, unter diesen nicht besonders hohen Anforderungen gehe ich davon aus, meine Zuständigkeit besteht. Das heißt nicht, dass im Hauptsacheverfahren, wenn es dann um die tatsächliche Zulässigkeit geht, er diesen Befund aufrechterhalten wird.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: So, und jetzt kommt also der Internationale Gerichtshof dazu, sich für zuständig zu erklären aufgrund dessen, was Sie gerade beschrieben haben. Und jetzt stellt sich die Frage, wieso äußert er sich zu der Frage auf die Anwendung militärischer Gewalt durch Russland in der Ukraine völkerrechtskonform ist? Er hätte doch auch, nachdem, was Sie jetzt gesagt haben, sagen können, die Rechtsbehauptung Russlands, dass hier ein Völkerrechtsmord erfolgt, diese Rechtsbehauptung ist unzutreffend. Aber nein, er geht weiter und sagt, ich befasse mich mit der Frage, ob die Anwendung militärischer Gewalt durch Russland in der Ukraine völkerrechtskonform ist oder nicht. Wie kommt es dazu?
FRIEDRICH ARNDT: Der IGH hat sich nicht zur Rechtmäßigkeit oder zu irgendeiner Legalität der russischen Militäroperationen geäußert. Er hat lediglich Maßnahmen ergriffen, Anordnungen getroffen, um Schäden von betroffenen, geltend gemachten Rechten abzuwehren, die potenziell im Hauptsacheverfahren zur Disposition stünden. Das hieße, die Invasion wurde nicht rechtlich bewertet. Sondern es wurde das Faktum festgestellt, dass Rechte betroffen sein könnten und das deswegen militärische Operationen einzustellen sind.
PROF. PAULINA STARSKI: Es geht um diese Behauptung, diesen Legality Claim, wenn man so möchte, ich interveniere jetzt militärisch zur Verhinderung eines Genozids. Und der IGH guckt sich das Negativum an. Ja, es besteht das Recht der Ukraine, nicht Opfer einer militärischen Intervention zu werden, die der Verhinderung vom Genozid dient. Das heißt, dieser Gewalt kommt da hinein nur über diese Idee hinter dieser Völkermordkonvention, dass es Völkermord zu verhindern gilt. Und da ist der IGH auch ganz ausdrücklich. Er sagt nichts zu einem Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta. Er maßt sich sozusagen nur an, über diese (?Sphäre) der Völkermordskonvention zu urteilen. Und die Gewalt kommt da hinein, weil das Teil des Legality Claims auf der russischen Seite ist.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Sie hatten es gerade schon beschrieben. Da begründet der Gerichtshof oder eben benennt ein Recht der Ukraine, nicht zum Opfer zu werden von militärischen Maßnahmen Russlands, die das Ziel haben, einen Genozid zu verhindern oder die Durchführung eines Genozids zu bestrafen. Wie ist das jetzt einzuordnen? Denn das ist ja kein Recht, das so in dieser Form in der Völkermordskonvention steht.
FRIEDRICH ARNDT: Wenn wir uns jetzt das Recht konkret angucken, um das es hier gehen soll, dann ist das letztlich eine Art bona fide Argumentation, die die Ukraine hier vorgebracht hat und die der IGH dann in einer gewissen Weise wohl auch gekauft hat. Es ist nach Auffassung des Gerichts grundsätzlich plausibel, dass ein solches Recht als Negativum aus der Konvention folgt. Und gestützt haben die Ukraine in ihrer Argumentation, dass eben auch ein bona fide Gedanken, dass Russland die Verpflichtung, Völkermord zu verhindern und zu verfolgen aus der Konvention, gut Glaubens ausüben muss. Das heißt auch, sie nicht bösgläubig gegen andere Staaten zu erheben und auszunutzen zu anderen Zwecken, zum Beispiel zum Kaschieren einer krassen, offensichtlichen Aggression.
PROF. PAULINA STARSKI: Also, Sie haben ja vollkommen Recht, wenn Sie immer so darauf pochen, wo kommt dieses Recht her? Wenn man so ein bisschen Advocatus Diaboli möchte an diesem Punkt, dann könnte man sagen: Es ist doch ganz klar, dass es kein Recht gibt, de lege lata kein Recht zu militärischen Interventionen gibt zur Verhinderung eines Völkermordes. Das ist klar. Und das ist überhaupt nicht im (?Skope), im Anwendungsbereich der Völkermordskonvention. Da gibt es einige Staaten, zum Beispiel das Vereinte Königreich beruft sich immer noch auf diese Humanitarian Necessity und hält sich die Möglichkeit offen, in einer möglichen militärischen Intervention zur Verhinderung eines Völkermordes. Aber die herrschende Auffassung der Staatengemeinschaft untersagt, so etwas existiert nicht, und erst recht nicht im Rahmen der Völkermordkonvention! Das heißt, man könnte natürlich ganz klar argumentieren, so ein Recht existiert gar nicht. Es ist eigentlich gar kein richtiger Streitpunkt. Aber das kommt herein über diese Plausability-Prüfung, wie schon dargestellt. Und mitunter prüft auch der IGH in einigen Beschlüssen zu vorsorglichen Maßnahmen eine bloße Möglichkeit, also mehr Possibility als Maßstab, dann wirklich auch sehr niederschwellig. Und zum anderen ist ja neben dieser bone fide Interpretation der natürlich auch gesteuert von der Legality Claim, der auf der russischen Seite geltend gemacht wird, und nun mal der Genozid als Begriff fällt. Das heißt, diese Falschbezichtigung des Genozids und dieses Recht zur militärischen Operation wird sozusagen dann hineinkonstruiert, folgend auch auf diesem Plausibility-Maßstab, auch in die Völkermordskonvention, und akzeptiert hingenommen. Ob das Hauptsacheverfahren dann durchgehen wird, ist eine andere Frage.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ist das eine, würden Sie sagen, Argumentation von Seiten der Ukraine? Oder ist das so zu argumentieren, dass man ein negatives Recht, gewissermaßen ein Abwehrrecht aus einer Konvention so herleitet? Ist das eigentlich gängige, völkerrechtliche Praxis?
PROF. PAULINA STARSKI: Also, zu dem letzten Teil der Frage vielleicht, es gab durchaus schon Verfahren vor dem IGH, in deren Rahmen ein Kläger geltend gemacht hat, das Recht nicht verletzt zu haben. Diese Konstellation hat es schon einmal gegeben, die Lockerbie-Entscheidung ist ein Beispiel. Das hat es schon einmal gegeben. Gleichwohl ist zu betonen, man hat dieses Gefühl, weil dieser Beschluss, der IGH wollte etwas sagen in dieser Konstellation. Ja, das ist auch zu berücksichtigen und er verlässt aber jetzt das methodisch Reine hier nicht. Er ist halt sehr niederschwellig mit den Anforderungen, die an die Plausibilität gestellt werden. Das betrifft die Existenz des Rechts als auch die Gründe, die hier dargelegt werden seitens der ukrainischen Seite, dass dieses verletzt wird, beide Aspekte.
FRIEDRICH ARNDT: Also, ich würde jetzt mal darlegen, was das Argument ist und dann peu à peu sagen, wie neu das Ganze ist. Das grundsätzliche Argument, es gibt eine Verpflichtung, bei deren Erfüllung muss ich ungläubig vorgehen. Und ich darf diese Verpflichtung nicht umkehren in bösgläubiger Natur. Das ist ganz, ganz akzeptiert und ganz, ganz grundlegend. Das wurde also vom IGH 1974 einmal festgestellt. Aber das ist ein ganz, ganz grundsätzliches Prinzip. Das ist auch nicht der Völkerrechtsordnung irgendwie eigen. Das ist ein grundsätzliches Rechtsmittel.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Gutglaubensgrundsätze sind in allen Rechtsordnungen und auch in unserer an verschiedenen Stellen ausgeprägt, klar.
FRIEDRICH ARNDT: Und natürlich auch diese spezifische Ausprägung des Gutglaubenssatzes, dass man eben Obligationen, Verpflichtungen in Gutglauben erfüllen muss. Das heißt, dieser erste Schritt ist sehr, sehr fest. Der ruht auf sehr solidem Fundament. Wie weit man diese Gutglaubensverpflichtung dann auslegen möchte, das ist etwas, wo der IGH Spielraum hat, und das ist das, wo der IGH diesen Plausibilitätsmaßstab in dem Fall nutzt, um ein endgültiges Urteil natürlich an der Stelle natürlich zu vermeiden, weil die Frage schlicht zu kompliziert und zu ungeklärt ist, um das in einem vorläufigen Verfahrensschritt zu klären. An der Stelle, ob die sozusagen auch die negative Obligation enthält, etwas zu unterlassen, was nicht gedeckt ist von dieser Verpflichtung, da kann man streiten. Ich persönlich finde das aber auch nicht besonders fernliegend an der Stelle zu sagen, das ist eine Abuse of Right, wie es im Englischen heißt, ein Rechtsmissbrauch-Argument. Wenn wir diese Prevent-and-Punish-Verpflichtung aus der Konvention so verstehen als Russische Föderation, dass und das auch militärische Interventionen erlaubt.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ich glaube, warum diese Diskussion so gewinnbringend ist, dass deutlich wird, dass das Völkerrecht schärfer ist als sein Ruf. Denn im Vorfeld dieser Entscheidung war ja erwartet worden, überwiegend jedenfalls, dass der Internationaler Gerichtshof sich vielleicht äußern wird, aber dass der Internationaler Gerichtshof sich eben nicht äußern darf zu der, wie Sie beschrieben haben, Frage, ob es sich hier um eine völkerrechtswidrige Anwendung von militärischer Gewalt vorliegt und deshalb ein Verstoß gegen das # Gewaltverbot vorliegt. Und für jeden ist das offenkundig, dass es sich hier um eine Verletzung des Gewaltverbots handelt, noch deutlich mehr. Also wir haben offensichtlich eine armed Attack, wir haben ein Selbstverteidigungsrecht der Ukraine dagegen. Und der IGH darf sich dazu nicht äußern. Und trotzdem kommt er völkerrechtlich zu einer weitreichenden Entscheidung in einem vorläufigen Verfahren mit dieser deutlichen Äußerung, ihr müsst jetzt hier diese Kampfhandlung unmittelbar einstellen.
PROF. PAULINA STARSKI: Genau. Und vielleicht noch einen Punkt zusätzlich dazu, also, dieser Beschluss im Provisional-Measures-Verfahren ist bindend zwischen den Parteien, hat eine Bindungswirkung. Und die Anordnung ist ja sehr weit gefasst, also diese militärische Operation hat aufzuhören, jetzt technisch gesprochen. Und das Interessante ist, dass aus diesem Beschluss selbst die völkerrechtliche Pflicht der Russischen Föderation folgt, aufzuhören. Das heißt, wir haben hier einen neuen Grund sozusagen, den wir anführen können, der definitiv höchstrichterlich, wenn man so möchte, festgestellt ist. Das hat aufzuhören jetzt, basierend allein schon auf diesem Beschluss. Und das ist das Entscheidende. Also neben UN-Charta und so weiter kommt jetzt nochmal dieser Beschluss des IGH. Und deswegen zeigt es auch die völkerrechtspolitische Dimension dieses Verfahrens.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Absolut. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, man hat jetzt diesen Beschluss und diese Anordnung. Was macht die Ukraine damit? Und da kommen wir ja zu einer Frage, die für uns Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler immer ein bisschen unangenehm wird, weil es ein fürchterliches Vollstreckungsdefizit gibt. Wie geht man damit um? Welche Folgewirkung hat in Ihren Augen diese Entscheidung? Und vielleicht können Sie da auch noch einmal allgemein darauf eingehen, wie eigentlich diese prekäre Vollstreckung von der Entscheidung des IGH aussieht und was dem unterlegenen Staat im Falle einer Noncompliance droht.
PROF. PAULINA STARSKI: Ja, wir müssen hier differenzieren zwischen einmal diesem Beschluss der vorsorglichen Maßnahmen, der Provisional-Measures-Beschluss auf der einen Seite und dann gegebenenfalls einem finalen Urteil. Die Nichtbefolgung eines Provisional-Measures-Beschlusses ist selbst ein Verstoß gegen das Völkerrecht, begründet also eine Völkerrechtswidrigkeit. Und wozu es oftmals kommt in solchen Verfahren, dass dann im Urteil im Hauptsacheverfahren der IGH feststellen würde, zudem besteht ein Verstoß gegen mein Provisional-Measures-Beschluss. Und theoretisch hat er auch die Möglichkeit, hier noch separate Remedies, also eine Form von Wiedergutmachung dafür anzuordnen, macht er bis jetzt nicht. Also meistens kommt es nur zu einem declaratory Finding. Außerdem, der Provisional-Measures-Beschluss wurde sozusagen missachtet hier. So, wenn es um die tatsächliche Vollstreckung jetzt geht, ist es so, wir haben einen Artikel 4und noch 90 der UN-Charta, der sagt, dass Entscheidung des IGH, in seinem Absatz 1, Entscheidungen des IGH sind verbindlich. Und Absatz 2, gibt es ein besonderes Vollstreckungsverfahren in Anführungsstrichen, allerdings nur für Urteile des IGH. Urteile, Judgements, steht ausdrücklich darin, sind keine Orders, also keine Beschlüsse. Das heißt, Artikel 94 Absatz 2 führt uns hier nicht weiter. Allerdings gibt es dennoch theoretisch Möglichkeiten zu handeln. Und zwar könnte der UN-Sicherheitsrat basierend auf Kapitel 7 vorgehen, wenn er feststellte, dass die Nichtbeachtung des Provisional-Measures-Beschlusses eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens darstellen würde. Das könnte er, dazu könnte es kommen. Aber natürlich wissen die UN-Sicherheitsrat, was haben wir da, die # Option der Russischen Föderation. Das heißt, das wird jetzt nicht erfolgsversprechend sein. Interessanter ist vielleicht ein Vorgehen des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel 6. Da geht es um die friedliche Streitbeilegung. Da gibt es unter Umständen die Möglichkeit, vorzugehen und Maßnahmen zu empfehlen. Und da gibt es auch eine Besonderheit in Artikel 27 Absatz 3 der UN-Charta. Da würde für die Streitparteien nämlich das Vetorecht nicht greifen. Allerdings ist wiederum die Frage, ob vorgegangen wird nach Kapitel 6. Das ist wiederum eine Entscheidung, die in diese Veto-Kompetenz fällt. Das heißt, das könnte wiederum die Russische Föderation blockieren. Und dann haben wir noch die UN-Generalversammlung. Die UN-Generalversammlung könnte sich äußern meines Erachtens dazu, sie hat ja schon eine Emergency Resolution verfasst in dieser Konstellation. Und ihr ist auch diese Angelegenheit übertragen worden seitens des UN-Sicherheitsrates. Und die könnte basierend auf diesem Mandat meines Erachtens noch einmal eine Resolution verfassen, in deren Rahmen die Russische Föderation aufgefordert wird, dem Provisional-Measures-Beschluss zu folgen. Jetzt ist die Frage, was bringt das? Dann haben wir ja nochmal ein Dokument. Und das können wir jetzt auch nicht wirklich vollstrecken. Aber ich glaube, das ist ein bisschen zu kurz gegriffen. Völkerrecht funktioniert nämlich so ein bisschen anders als das innerstaatliche Recht. Also diese Dezentrale ist für das Völkerrecht ist ein Grundproblem, das durchzieht die Völkerrechtsordnung. Allerdings ist das Völkerrecht immer eine Referenzordnung. Und staatliches Verhalten wird beeinflusst durch Völkerrecht und insbesondere auch dadurch, wenn es höchstrichterlich festgestellt wird. Also so eine Entscheidung des IGH ist nach Artikel 38 Absatz 1 auch eine Erkenntnisquelle, eine Rechtserkenntnisquelle, wenn man so möchte. Wir haben hier eine eindeutige, völkerrechtliche Verpflichtung in dem Beschluss, diese militärische Operation hat aufzuhören. Und das verändert natürlich auch diese Diskussion in den Staaten. Denn wir haben hier etwas, nach dem wir operieren können, also so einen Schlusspunkt der Argumentation. Also, dieses Argumentieren wie im Zuge der Krim-Krise, da hatten wir doch dieses Referendum, so ganz klar ist jetzt nicht, ob das völkerrechtswidrig war. Ich würde natürlich ganz klar sagen, die Annexion der Krim war völkerrechtswidrig, ganz klar. Aber dieser Grauzonenargumentation wird jetzt Schlagkraft genommen in diesem Fall, der russischen Aggression, würde ich sagen. Und das ist dann eben etwas, was recht entscheidend ist und was wir mit einbeziehen müssen in diese Bewertung.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist auch eine langfristige Perspektive, dass die Mühlen des Völkerrechts vielleicht langsamer mahlen, als wir uns das so wünschen, aber dass die Folgen dieses Angriffskrieges Russland gegen die Ukraine, dass die aus dieser völkerrechtlichen Warte, die Sie beschrieben haben, nochmal neu gegriffen wird und man Staaten auch stärker festhalten kann. Es handelt sich um einen Referenzpunkt für die Argumentation und für die Berücksichtigung der völkerrechtlichen Entwicklung.
FRIEDRICH ARNDT: Ich glaube, das ist der ganz entscheidende Punkt. Der kleine Beitrag, den das Völkerrecht ohne jegliche politische Reaktion im Sicherheitsrat oder der Staatengemeinschaft leisten kann an der Stelle, und die der IGH auch leisten kann, ist es, die Wertung zu vereinfachen an der Stelle, Graubereiche, wie Professor Starski schon gesagt hat, zu verringern. Und das hilft an vielen Ecken und Enden, wenn es um Sanktionsregime und die Vereinbarkeit mit Welthandelsrecht geht, wenn es um andere Schiedgerichtsklauseln und so weiter geht. Das hilft an vielen Stellen, diese klare Wertung, wie Frau Professor Starski schon gesagt hat, wir haben einen ganz klaren, neuen Rechtssatz. Es gibt diesen Order, der ist rechtlich verbindlich, gegen den wird verstoßen. Auch das Naming and Shaming, was man so oft sagt, das der einzige Durchsetzungsmechanismus des Völkerrechts ist, greift die Presse wieder auf. Der IGH hat mal wieder was zu Russland und der Ukraine gesagt. Das geht dann halt (?einen Tag) durch die Presse. Das hilft den Ukrainern jetzt relativ wenig, weil Russland extrem determiniert ist, diese Invasion durchzuführen, aktuell von nichts abhält, aber langfristig hilft das, innerstaatliche Diskussionen zu beeinflussen. Und es hilft langfristig, die Völkerrechtsordnung vielleicht immer mehr in Richtung einer durchsetzbaren Friedensordnung zu schenken. Und das ist das Beste, was das Völkerrecht an der Stelle vielleicht tun kann.
PROF. PAULINA STARSKI: Das ist ein toller Schlusssatz! Vielleicht auch nochmal eine Ergänzung. Das war jetzt perfekt. Aber wenn man sich überlegt, was prägt eigentlich diese Rechtsbehauptung der Russische Föderation? Es ist ja eine sehr große, eine zynische Invokation des Völkerrechts. Und was die Ukraine hier macht, und es gibt ja noch ein anderes Verfahren, das anhänglich vor dem Internationalen Gerichtshof ist, da wird basierend auf dem Abkommen zur Beseitigung von # Rassendiskriminierung etwas anders argumentiert. Aber es geht eigentlich um die Mittel des Rechts zu nutzen und auch diese Antipode zu diesem Zynismus zu etablieren. Also die Ukraine kämpft, sie verteidigt sich selbst mit militärischen Mitteln, aber auch mit rechtlichen Mitteln, und schöpft diese in allen Bereichen, die es gibt, aus, aber gerade nicht zynisch, nicht rechtsverdrehend, sondern im Rahmen des Rechts. Das heißt, wir haben hier diese geballte Gewalt des Rechts, das auf der Seite der Ukraine steht. Und dieser Beschluss des IGH ist zu sehen als ein weiterer Baustein, der die Russische Föderation eindeutig jenseits des Konsenses der Völkerrechtsgemeinschaft hinausmanövriert und insofern eines der stärksten Branding and Shaming sozusagen im Moment darstellt und dann auch staatenweise steuert.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir haben wirklich eine einmalige Situation mit diesem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, die sich allenfalls vergleichen lässt mit dem irakischen Überfall auf Kuweit, wenn überhaupt. Aber vielleicht gibt es in Ihren Augen Entscheidungen des IGH in vergleichbar kontroversen Konfliktlagen, die die völkerrechtliche Entwicklung nachhaltig geprägt haben?
PROF. PAULINA STARSKI: also, wir haben ja hier eine Konstellation, da ist ein Staat, der marschiert in einen anderen ein und sagt, das ist jetzt meins. Und ich bestimme, was hier zu tun ist. Das ist eigentlich der Präzedenzfall, für den die UN-Charta geschaffen wurde. Wir haben uns ja jahrzehntelang darüber unterhalten, das Gewaltverbot ist out of Date. Wir haben jetzt Terrorismus. Und so einen Fall gibt es gar nicht, dass wir einen Aggressor haben. Den haben wir jetzt. Das heißt, das Recht ist hier ganz eindeutig. Dafür wurde es geschaffen. Da gibt es nichts zu diskutieren. Das ist völkerrechtlich einfach untersagt. Und da muss man schon sagen, in dieser Eindeutigkeit ist das exzeptionell in dieser Art und Weise, weil wir wirklich einen eindeutigen Aggressor hier, also keinen Konflikt, der sich aufgewiegelt hat und so weiter. Das ist vielleicht der eine Punkt. Zum anderen fällt es mir vor dem Hintergrund schwer, Ihnen jetzt Fälle zu nennen, das war ja so ähnlich. Denn ich glaube, diese Gravität wurde selten in dieser Art und Weise erreicht. Wir können uns aber anschauen, es ist ja vielleicht interessant zu gucken, Fälle, in denen am Ende ein Urteil jetzt nicht unmittelbar erfüllt wurde. Nicaragua gegen die USA, da ging es um die Unterstützung der Kontras seitens der USA. Die USA haben dann die Gerichtsbarkeit des IGH am Ende nicht akzeptiert. Und letztendlich dieses Urteil Nicaragua gegen die USA ist ganz entscheidend für die Auslegung des Artikel 51 der UN-Charta. Das ist ein ganz anderes Beispiel, aber es gab ja diese Entscheidung IGH, juristicial Immunities. Da ging es um ein Verfahren Deutschland gegen Italien, um die Staatenimmunität. Es ging darum, italienische Bürger, die gegen die Bundesrepublik geklagt haben wegen Zwangsarbeit. Und da sind Urteile. Italienische Urteile haben Entschädigungen zugesprochen. Italien hat Urteile griechischer Gerichte anerkannt. Und der IGH hat festgestellt, letztendlich gab es hier einen Verstoß gegen den Grundsatz der Staatenimmunität auf der italienischen Seite. Italien hat sich diesem Urteil aber nie wirklich gebeugt. Wir haben nach wie vor hier einen Bruch, einen Völkerrechtsbruch, weil dieses Judikat des IGH seitens Italiens nicht befolgt wird. Nach wie vor ist, muss man sagen, dieses Urteil ganz entscheidend und ist das Referenzurteil für alle Verfahren, die irgendwas mit der Staatenimmunität zu tun haben. Das heißt also, jedes Urteil des IGH, muss man sagen, ist eine Rechtserkenntnisquelle und prägt ganz entscheidend das Recht, dass de lege lata gegeben ist, und auch, wie das Recht sich in Zukunft womöglich weiterentwickeln könnte.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also vielleicht könnten Sie zum Abschluss noch eine Einschätzung abgeben, wann die Hauptsache-Entscheidung typischerweise zu erwarten sein dürfte und wie sie nach Ihrer juristischen Einschätzung zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausfallen würde.
FRIEDRICH ARNDT: Also, einen Zeitrahmen zu setzen ist in solchen Fällen so schwierig, dass es meiner Meinung nach keine Ausrede ist zu sagen, das ist unmöglich. Die Verfahren vor dem IGH laufen sehr unterschiedlich lang. Es gibt Verfahren, die teilweise mehrere Jahrzehnte laufen von der Einleitung des Verfahrens bis zum letztlichen Merits-Urteil, also bis zu einem abschließenden Urteil in der Begründetheit. Und auch diese Verfahren werden dann teilweise nochmal in einem Request for Interpretation neu aufgegriffen. Also, sehr langsam mahlen teilweise die Mühlen. Teilweise geht es auch relativ schnell. Letztlich würde ich einmal behaupten, aufgrund der Komplexität der Legality Claims, die Russland vorbringt, aufgrund der sehr komplizierten Zuständigkeitsgrundlagen und aufgrund der sehr komplizierten und unüberschaubaren Faktenlage, die ermittelt werden muss selbst nach Ende des Konflikts, bis ein endgültiges Urteil fallen kann, würde ich hier auf jeden Fall Zeitraum mehrere Jahre rechnen, bis wir ein endgültiges Urteil haben. Zum Ausgang des Verfahrens, ich sehe tatsächlich große Hürden, weniger bei dem Streitpunkt, gibt es Zuständigkeit? Da würde ich sagen, ja, Russland ermächtigt sich dieser Legality Claims. Russland benutzt ganz bewusst die Sprache und die Begriffe und die Konzepte dieser Völkermordkonvention. Und auch, wenn deren Auslegung in gewisser Weise absurd erscheinen mag, ist es eine Auslegung, die sie freien Willens vorgebracht haben und die Ukraine bestreiten kann, dann haben wir einen entsprechenden Streitstand. Ich halte das für keine abstruse Auslegung. Deswegen kann ich mir durchaus vorstellen, dass die Zuständigkeit über Artikel 9 gehalten wird. Ob es auch dazu kommt, dass dieses Recht, nicht Subjekt einer militärischen Handlung zu sein auf Grundlage eines fiktiven Genozid-Claims, ob dieses Recht hinreichend genug substanziiert werden kann, wage ich mir ehrlich noch kein Urteil. Da bin ich aber skeptischer als für die grundsätzliche Zuständigkeit über Artikel 9.
PROF. PAULINA STARSKI: Ich würde nur ergänzen, dass ich glaube, dass das Hauptsacheverfahren, also die Entscheidung auch auf Zulassungsebene, wird viel komplexer sein als dieser relativ kurze Beschluss. Und der IGH ist auch sehr gut beraten, eine sehr umfassende Begründung zu schreiben, egal in welche Richtung es gehen wird. Denn das Entscheidende an diesem Punkt ist ja, dass wir wirklich auch einige Abgrenzungsfälle haben. Wir haben halt schon Judikatur zu Artikel 9 der Völkermordskonvention. Wir haben dieses Legality oft he Use of Force in der Jugoslawien-Konstellation. Da muss ganz klar abgegrenzt werde. Das ist schon in diesen Declarations, die von einigen Richter*innen angeführt wurden, noch einmal angedeutet worden. Und ich glaube, die Entscheidung wird strittiger sein, viel strittiger. Und ich glaube, der IGH wird natürlich auch sehr viele Folgeeinwirkungen, auch wenn er nur auf Grundlage des Rechts entscheidet, und das ist es ja, das darf nicht politisch entscheiden, sondern auf der Rechtsebene, muss er natürlich auch gewisse Folgeimplikationen mit einbeziehen. Dass diese negative Auslegung plötzlich nicht zum Standard wird und so weiter, das ist eben etwas, was man berücksichtigen muss. Und der IGH ist sehr gut beraten, würde ich sagen, so technisch wie möglich zu argumentieren und so wenig empathisch wie möglich. Das ist zwar schwer angesichts der Situation. Aber ich glaube, das Schöne ist ja die Objektivität und die Präzision und das Technische im Recht, weil das hindert sozusagen Missbrauch. Und ich glaube, dass das ein Mammuturteil werden wird, was auf sehr viele Punkte einzugehen sein wird. Ich glaube, mit der Zeitleiste laufe ich sehr konform mit Herrn Arndt. Wir sind alle, glaube ich, sehr gespannt. Und ich glaube, wir würden sagen, dieser Beschluss, der jetzt so ist, den kann man gut so mittragen auf der Basis. Spannend wird es dann wirklich im Detail sein, in der Argumentation im Hauptsacheverfahren. Und da, ehrlich gesagt, gibt es noch einige Fragezeichen. Aber vielleicht ist es sogar für die Entscheidung gut, dass nicht so akut wie im Provisional-Measures-Verfahren entschieden wird, sondern das Ganze etwas Zeit hat, um auch wirklich zu reflektieren über das Recht.
Dr. CARL-WENDELIN NEUBERT: Liebe Frau Professorin Starski, lieber Herr Arndt, haben Sie vielen, herzlichen Dank für Ihre Zeit, für das Gespräch, für die engagierte Diskussion und den Ausblick in diesem wichtigen Verfahren. Und ich bin gespannt, wann wir uns das nächste Mal zusammensetzen, um über diesen Konflikt und diesen Komplex zu diskutieren. Vielen Dank!
PROF. PAULINA STARSKI: Herzlichen Dank.
FRIEDRICH ARNDT: Vielen Dank für die Einladung.
Erwähnte Gerichtsentscheidungen
Die Entscheidung des IGH vom 16.03.2022 im Original findet ihr hier. Die Besprechung der Entscheidung in der Jurafuchs-App findet ihr hier.
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