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Urheberrecht als Waffe – mit Rechtsanwältin Viktoria Kraetzig

Jurafuchs Podcast #010 | Können Staat und Bürger sich mit Mitteln des Urheberrechts unliebsamer Presseberichterstattungen erwehren? | BGH, Urteil vom 30.04.2020 - I ZR 139/15 („Afghanistan Papiere II“)

Zusammenfassung

Das Urheberrecht schützt u.a. die Verwertungsrechte der Urheber:innen in Bezug auf ihre Werke. Doch das Urheberrecht wird auch eingesetzt, um unliebsame Presseberichterstattung zu unterbinden - und zwar sowohl durch Privatpersonen als auch durch die öffentliche Hand. Rechtlich wird dies dadurch möglich, dass der urheberrechtliche Unterlassungsanspruch (§ 97 UrhG), mit dem Urheber:innen gegen die Verwertung ihrer Werke durch Dritte vorgehen können, nur sehr eng begrenzte Ausnahmen vorsieht. 

Das Problem tritt deutlich hervor in einem Fall, der vor zehn Jahren begann: 2012 veröffentlichte die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) auf ihrer Onlineplattform die sogenannten Afghanistan-Papiere. Dabei handelt es sich vertraulich eingestufte Lageberichte des Bundesverteidigungsministeriums zur Unterrichtung des Parlaments über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, die an die WAZ geleakt worden waren. Die Bundesregierung griff auf das Urheberrecht zurück, um die Veröffentlichung der Afghanistan-Papiere durch die WAZ rückgängig zu machen. Der Bundesgerichtshof entschied diesen kontroversen Fall im Jahr 2020 (Urteil vom 30.04.2020 - I ZR 139/15).

Urheberrechtspezialistin Viktoria Kraetzig, ehemalige Justiziarin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Rechtsanwältin in der Kanzlei Nordemann und Habilitandin an der Goethe-Universität Frankfurt, erläutert diesen Fall und die dahinter liegenden Rechtsprobleme. Viktoria Kraetzig erklärt Grundlinien und Anwendungsbereich des Urheberrechts. Sie bestimmt die Voraussetzungen des urheberrechtlichen Unterlassungsanspruchs und seine Schranken und legt dar, warum der BGH sich in diesem Fall mit Auslegungsfragen an den EuGH gewandt hat. In ihrer kritischen Würdigung der BGH-Entscheidung erläutert Viktoria Kraetzig, warum in der Praxis weiterhin mit dem Einsatz des „Urheberrechts als Waffe“ zu rechnen ist.

Interview (Transkript)

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif, dem Rechtsprechungspodcast von Nora Fuchs. In Kooperation mit dem Nomos Verlag. Mein Name ist Wendelin Neubert und zusammen mit meinen Gästen gehe ich dem Kontext und den Hintergründen aktueller Gerichtsentscheidungen auf die Spur.

RA VIKTORIA KRAETZIG: Das Urheberrecht schützt zum einen die Interessen des Urhebers, also dessen Vermögensrechtlichen Interessen: Wenn er ein Werk schöpft, hat er natürlich auch ein Interesse daran, das angemessen zu verwerten. Zum öffentlichen Recht gibt es tatsächlich keine Regelung oder keine gesetzliche Vorschrift, auf die der Staat sich berufen könnte, wenn Informationen geleakt werden. So kommt man dann dahin, dass die öffentliche Hand in dieser Konstellation in das Privatrecht, konkret in das Urheberrecht flieht, um letztlich öffentlich-rechtliche Interessen durchzusetzen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Mein Gast ist Rechtsanwältin Viktoria Krätzig. Sie ist ehemalige Justiziarin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Rechtsanwältin in der Kanzlei Nordemann, spezialisiert auf Urheber- und Medienrecht. Daneben habilitiert Frau Krätzin sich an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Liebe Viktoria, herzlich willkommen.

RA VIKTORIA KRAETZIG: Vielen Dank, Wendelin. Ich freue mich, heute hier zu sein.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Sehr schön. Wir wenden uns heute einem Rechtsgebiet zu, das bei Spruchreif bislang noch nicht zur Sprache gekommen ist, nämlich das Urheberrecht. Und konkret sprechen wir über das Urheberrecht als Waffe. Dieser martialisch anmutende Titel bezieht sich auf Konstellationen, in denen das Urheberrecht zur Unterbindung unliebsamer Presseberichterstattung gezielt eingesetzt wird. Und das Thema spielte in jüngster Zeit immer wieder eine Rolle. Aber wir wollen uns diesem Thema über einen aufsehenerregenden Fall annähern, der vor zehn Jahren begann. Im Jahr 2012 wurden die sogenannten Afghanistan-Papiere veröffentlicht. Liebe Viktoria, könntest du zum Einstieg bitte einmal diesen Fall skizzieren?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Sehr gerne. Das Verteidigungsministerium lässt wöchentlich von Soldaten einen militärischen Lagebericht zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr erstellen. Wichtig ist insoweit jetzt: Es handelt sich bei diesen Lageberichten um Verschlusssachen, die nur ausgewählten Mitgliedern des Bundestags zur Verfügung gestellt werden. Unter anderem hat das Verteidigungsministerium auch Lageberichte über die Auslandseinsätze - man kann es sich jetzt schon denken - in Afghanistan ausarbeiten lassen. Und um diese ging es in der Rechtssache Afghanistan-Papiere. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung beantragte nach dem Informationsfreiheitsgesetz, kurz IFG, Einsichtnahme in diese Lageberichte. Der Antrag wurde dann allerdings abgelehnt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Hilf uns mal ganz kurz: Was ist eigentlich dieses Informationsfreiheitsgesetz und was sind die Voraussetzungen eines Anspruchs, den man daraus herleiten kann?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Ja, sehr gerne. Das IFG gibt es noch gar nicht so lange. Das soll Verwaltungshandeln für den Bürger transparenter machen und sieht deshalb einen tatsächlich materiell-rechtlich voraussetzungslosen Anspruch für jedermann zu. Also jedermann kann bei einer Behörde so einen Anspruch auf Gewährung von Informationen stellen. Der Anspruch ist also voraussetzungslos. Er ist aber nicht ausnahmelos. Es gibt dann natürlich schon Ausnahmetatbestände, zum Beispiel zum Schutz von personenbezogenen Daten oder auch zum Schutz von Sicherheitsinteressen. Und hier in dieser Rechtssache berief sich das Verteidigungsministerium auf die Ausnahmevorschrift des Paragraf drei Nummer eins b IFG nach der die Behörden solche Informationen nicht herausgeben müssen, die militärische und sonstige sicherheitsempfindliche Belange der Bundeswehr betreffen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir haben also einen klassischen Fall, in dem eine Zeitung Zugang zu Informationen erlangen möchte, die aus Perspektive der Zeitung und möglicherweise auch aus Perspektive der Öffentlichkeit veröffentlichungswürdig sind, die aber aus Perspektive der Bundesregierung unter Verschluss bleiben sollen. Was ist denn jetzt passiert, nachdem dieser Anspruch abgelehnt wurde?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Ja, es ging so weiter, dass die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, irgendwie man weiß nicht wie, doch an diese Lageberichte gelangt ist. Wie gesagt, nicht über den Anspruch aus IFG. Die sind sonst irgendwie drangekommen und sind dann auch einen Schritt weiter gegangen und haben diese Lageberichte nämlich auf ihrer Website veröffentlicht. Hochgeladen. Es handelte sich da um Lageberichte aus den Jahren 2005 bis 2012. Das waren tausende von Berichten, weil jede Woche ein Bericht verfasst wird. Und den Großteil dieser Dokumente hat die Westdeutsche Allgemeine Zeitung dann dort hochgeladen. Sie haben allerdings - das wird später noch wichtig sein für die urheberrechtliche Bewertung - das hochgeladen, ohne dazu noch eine Berichterstattung zu veröffentlichen, sondern es war so, dass es nur einen Anreißersatz gab, wo eben darauf hingewiesen worden ist, um welche Lageberichte es sich handelt. Die Besucher der Website, die sind dann dazu aufgerufen worden, diese Lageberichte auszuwerten.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay.

RA VIKTORIA KRAETZIG: Und das hat dem Verteidigungsministerium nicht so gut gefallen, dass da plötzlich tausende Lageberichte öffentlich zugänglich waren: Lageberichte, die als Verschlusssachen eingestuft waren, die plötzlich jeder im Internet sehen konnte. Der Bundesregierung hat das nicht gefallen. Und deshalb wollte sie die Unterbindung dieser öffentlichen Zugänglichmachung erreichen und hat dafür einen urheberrechtlichen Unterlassungsanspruch wegen einer Verletzung ihrer urheberrechtlichen Verwertungsrechte geltend gemacht.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist spannend. Das klingt für mich auf ersten Blick wie ein Twist. Man hat natürlich die Informationen, die die Bundesregierung aus der Öffentlichkeit verschwinden lassen möchte. Das ist, denke ich, auch naheliegend, dass die Bundesregierung das möchte und so das Urheberrecht dafür in Anspruch nimmt. Bevor wir jetzt hier vertieft einsteigen, könntest du uns bitte einmal mitnehmen: Was sind denn die Funktionen und die Grundlinien des Urheberrechts?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Ja, sehr gerne. Das Urheberrecht schützt, zum einen, die vermögensrechtlichen Interessen des Urhebers, so dass, wenn er ein Werk schöpft, natürlich auch ein Interesse daran hat, das angemessen zu verwerten. Zum anderen schützt das Urheberrecht aber auch ideelle Interessen der Urheber. Sie haben natürlich auch-, man sagt, der Schöpfer hat eine enge Beziehung zu dem Werk, was er geschaffen hat, und möchte natürlich nicht, dass das Werk beispielsweise ohne eine Quellenangabe veröffentlicht oder in irgendeiner Form entstellt und in einen anderen Zusammenhang gezerrt wird. Diese persönlichkeitsrechtlichen Aspekte gibt es auch. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. In meiner sehr stark öffentlich-rechtlich geprägten Perspektive stelle ich mir urheberrechtliche Konflikte oft als Auseinandersetzungen zwischen Privatpersonen in zivilrechtlichen Konstellationen vor. Warum ist denn das Urheberrecht jetzt hier überhaupt anwendbar, wenn sich die Bundesrepublik Deutschland darauf beruft?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Das ist auch eine sehr gute Frage. Das fragen auch-. Das ist eigentlich die Frage, die immer am häufigsten bei dieser Konstellation kommt. Es ist natürlich so, dass sich der Staat nicht auf die Eigentumsgarantie aus Artikel 14 Grundgesetz berufen kann.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Die jetzt im Urheberrecht ausgestaltet ist?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Genau wie die Verwertungsrechte, auf die sich hier die Bundesregierung berufen hat, die fußen auf Artikel 14 des Grundgesetzes. Man muss sagen, da ist es grundrechtsdogmatisch nicht möglich, dass sich der Staat auf die Eigentumsgarantie beruft. Was er aber schon kann, ist einen privatrechtlichen Unterlassungsanspruch aus dem Urheberrecht geltend zu machen, weil der Staat in dieser Konstellation Inhaber der ausschließlichen Nutzungsrechte an den Lageberichten ist.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Interessant.

RA VIKTORIA KRAETZIG: Eingangs hatte ich ja gesagt, dass die (?Beamtenebene) des Verteidigungsministeriums diese Berichte in Ausübung ihrer Dienstpflicht ausarbeiten. Da ist es urheberrechtlich so: Ich würde davon ausgehen, dass in den Arbeitsverträgen eine entsprechende Klausel enthalten ist, dass sämtliche Sprachwerke, die die Beamten während ihrer Dienstzeit verfassen, dass da das ausschließliche Nutzungsrecht bei der Bundesregierung liegt. Selbst wenn das nicht so sein sollte, würde man hier dann von einer stillschweigenden Einräumung der Nutzungsrechte ausgehen. Deswegen muss man sagen: Wenn sich der Staat auch nicht auf das Grundrecht berufen kann, dann kann er durchaus den urheberrechtlichen Unterlassungsanspruch geltend machen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay, der urheberrechtliche Unterlassungsanspruch greift dann auch-, oder überhaupt das Urheberrecht greift dann auch in einem relativ weiten Umfang. Man darf darunter jetzt nicht nur Bücher, literarische Werke oder Gemälde verstehen, sondern auch solche Lageberichte.

RA VIKTORIA KRAETZIG: Ja, das ist ein weiterer sehr guter Punkt, dass wir uns vielleicht noch mal angucken. Wann kann das Urheberrecht überhaupt greifen? Die Voraussetzung, damit das Urheberrecht anwendbar ist, also das Eingangstor, damit man überhaupt die Tür zum Urheberrecht öffnet, ist das Vorliegen eines urheberrechtlichen Werkes. Das ist dann gegeben, wenn man eine persönliche, geistige Schöpfung hat. Dafür müssen die jeweiligen Inhalte eine bestimmte Schöpfungsgrenze erreichen. Das war hier in diesem Fall gar nicht so eindeutig, dass das gegeben war. Man muss ja sagen, diese Lageberichte waren auch nach dem immer gleichen Schema verfasst. Für eine persönlich geistige Schöpfung im Sinne des Urheberrechts ist es eigentlich nötig, dass der Urheber einen kreativen Gestaltungsspielraum hat, den er ausschöpfen kann. Und das ist, denke ich, schon sehr fraglich, ob man hier von einem kreativen Schaffensprozess sprechen kann, als sie diese Lageberichte nach einer Formvorlage geschrieben haben.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also gehen wir mal davon aus, wir haben jetzt hier diese Eingangsschwelle überschritten. Es handelt sich um ein urheberrechtliches Werk. Und, wie du gerade sagtest, der Staat kann sich auch darauf berufen. Jetzt haben wir hier eine Konstellation, in der der Staat einer Zeitung oder einer Mediengruppe gegenübertritt. Hier würde man ja eigentlich erwarten, dass der Staat sich auf öffentlich-rechtliche Befugnisnormen beruft oder auf das Strafrecht zurückgreift. Warum passiert das hier nicht?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Ja, absolut. Zuerst vielleicht zum öffentlichen Recht. Da gibt es tatsächlich keine Regelung oder keine gesetzliche Vorschrift, auf die der Staat sich jetzt berufen könnte, wenn Informationen geleakt werden und wenn er sie dann unterdrücken möchte. Oder "unterdrücken" ist insofern vielleicht zu negativ behaftet. Weil, wie du ja auch schon sagt, dass der Staat natürlich ein berechtigtes Interesse daran hat, dass Verschlusssachen nicht öffentlich zugänglich gemacht werden. Also auf jeden Fall öffentlich-rechtlich gab es hier keine Vorschrift, auf die sich die Bundesregierung berufen konnte. Man kann dann natürlich auch noch an das Strafrecht denken. Es gibt auch einen Straftatbestand, der die Verletzung des Dienstgeheimnisses und einer besonderen Geheimhaltungspflicht unter Strafe stellt. Das ist Paragraf 353 b StGB. Wenn wir jetzt aber mal überlegen: Die Bundesregierung wollte die öffentliche Zugänglichmachung möglichst schnell stoppen, wollte sie also unterbinden. Das heißt, wenn dann irgendwann mal in einem Strafprozess festgestellt wird, derjenige, der die Information rausgegeben hat, hat diesen Straftatbestand erfüllt, hilft das in der Situation nicht weiter.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Absolut.

RA VIKTORIA KRAETZIG: So kommt man dahin, dass die öffentliche Hand in dieser Konstellation in das Privatrecht, konkret in das Urheberrecht, flieht, um letztlich öffentlich-rechtliche Interessen durchzusetzen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Interessant. Du sagtest gerade schon, dass der Staat sich hier auf den urheberrechtlichen Unterlassungsanspruch beruft. Könntest du uns diesen Anspruch einmal nahebringen?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Zunächst müsste ein urheberrechtliches Werk vorliegen. Wir haben vorhin schon gesagt: Das ist die Eingangstür zum Urheberrecht. Ohne urheberrechtliche Werke kann der Unterlassungsanspruch nicht greifen. Weiterhin müsste das Urheberrecht verletzt worden sein. Es stellt sich die Frage: Wann ist das Urheberrecht verletzt? Das Urheberrecht ist verletzt, wenn das Werk verwertet wird. Dafür muss zunächst einer der urheberrechtlichen Verwertungstatbestände einschlägig sein - da gibt es eine ganze Reihe -, die auch sehr weit gefasst sind. Auch von der Rechtsprechung wird immer wieder betont, dass im Sinne eines umfangreichen Urheberrechtsschutzes diese Tatbestände weit zu verstehen sind. Hier standen jetzt zwei Verwertungsrechte in Frage und das sind die beiden, die auch, denke ich, am häufigsten einschlägig sind. Zum einen eine Vervielfältigung der Lageberichte, zum anderen stand hier in Rede eine öffentliche Zugänglichmachung der Inhalte. Eine öffentliche Zugänglichmachung hat man immer, wenn man ein Werk so online einstellt, dass es von Internetnutzern beliebig abgerufen werden kann. Entscheidend ist insoweit nicht, ob es dann tatsächlich auch wahrgenommen wird, sondern es reicht aus, wenn es theoretisch durch das Hochladen auf die Website wahrgenommen werden kann. Durch das Hochladen der Lageberichte war dieser Tatbestand also erfüllt. Dann ist es aber so: Wir haben ja vorhin gesagt, dass die Verwertungsrechte auf Artikel 14 Grundgesetz fußen. Und Artikel 14 ist natürlich auch nicht schrankenlos gewährleistet. Das ist ein sozialgebundenes Grundrecht. Und auch dem Urheberrecht werden im Sinne dieser Sozialgebundenheit Grenzen gesetzt. Oder, sagen wir anders, ihm werden Schranken gesetzt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wie beschränken denn diese Schranken den urheberrechtlichen Unterlassungsanspruch?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Wenn eine der Schranken einschlägig ist, dann liegt schon keine Nutzungshandlung vor, die die Verwertungsrechte erfüllen würde. Dann wäre man auf Tatbestandsebene schon raus, wenn eine dieser Schranken greifen kann.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und damit würde dann der urheberrechtliche Unterlassungsanspruch in sich zusammenfallen. Okay. Was sind denn das für Schranken? Was muss man sich denn darunter vorstellen?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Es ist im deutschen Recht so, dass es einen abschließenden Schrankenkatalog gibt. Das ist in allen Rechtssystemen sehr unterschiedlich geregelt. Bei uns gibt es in den Paragraphen 44 a ff. Urhebergesetz wirklich ganz streng kodifizierte Schrankentatbestände, die oft auf sehr spezielle Einzelfälle zugeschnitten sind. Welche Schranken von großer praktischer Relevanz sind-, und auch die beiden Schranken, die hier in Frage standen, ob sie nicht greifen können, ist einmal die Schranke zur Berichterstattung über Tagesereignisse. Die ist in Paragraf 50 Urhebergesetz geregelt und privilegiert die Veröffentlichung von urheberrechtlichen Werken zur Berichterstattung über ein Tagesereignis. Die andere Schranke, die hier auch, oder wo man zumindest hätte überlegen können, ob sie einschlägig ist, ist die sogenannte Zitatschranke oder Zitatfreiheit. Die erlaubt es, dass man aus urheberrechtlichen Werken zitieren darf. Die Schranken, über die wir hier sprechen sind einfach gesetzliche Ausprägungen der Kommunikationsfreiheiten. Die sollen eben-. Also ...00:16.31 Berichterstattung über Tagesereignisse, das liegt schon in der Überschrift der Schranke: Die soll eben der Pressefreiheit dienen. Die Zitatfreiheit soll gerade auch dem wissenschaftlichen Diskurs und Austausch dienen. Da könnte man sicherlich sagen, dass hier auch die Wissenschaftsfreiheit dahintersteht. Aber natürlich auch nicht nur wissenschaftliche Texte. Überhaupt der Diskurs und Austausch - letztlich auch die Kommunikationsfreiheit. Es gibt auch eine ganze Reihe anderer Schranken, die auf Grundrechte zurückgehen. Es gibt auch eine Reihe von Schranken, die bestimmte Privilegierung vorsehen für den Schul- und Unterrichtsgebrauch, was absolut sinnvoll ist. In bestimmten Grenzen dürfen urheberrechtliche Werke für den Unterricht und Lehrgebrauch benutzt werden, wie sie sonst nicht dürfen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also letztlich eine gesetzliche Ausgestaltung, ein gesetzlicher Ausgleich zwischen den widerstreitenden, grundrechtlich geschützten Interessen, die ja typischerweise hier im Privatrecht nicht miteinander in Kollision treten, aber die durch die mittelbare Drittwirkung Berücksichtigung finden müssen, deshalb als objektive Werteordnung hier durch den Gesetzgeber verwirklicht werden sollen. Okay. Jetzt haben wir diese beiden Schranken und die wollen wir vielleicht in den Kontext unseres Falles einbetten. Wir sind ausgegangen vom urheberrechtlichen Unterlassungsanspruch, den die Bundesregierung hier geltend macht, um diese Lageberichte zu verhindern beziehungsweise rückgängig zu machen. Jetzt stellt sich die Frage: Ist eine dieser Schranken einschlägig, auf die sich die WAZ-Mediengruppe berufen kann, um sich diesem Unterlassungsanspruch entgegenzustellen? Wozu hat das jetzt in unserem Fall geführt?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Dann fange ich vielleicht mit der Schranke an, die auf keinen Fall einschlägig sein kann von den beiden, nämlich mit der Zitatschranke. Die hat nämlich als Voraussetzung, dass sie nur solche Werke erfasst, die schon veröffentlicht waren. Es ist also so, dass unveröffentlichte Werke nie unter die Zitatschranke fallen können und somit, mal etwas allgemeiner gesprochen, nie geleakte Dokumente. Deswegen sind wir an dieser Stelle mit der Zitatschranke aus Paragraph 51 Urhebergesetz schon raus. Ich sagte ja jetzt eben, die andere Schranke ist Paragraf 50 Urhebergesetz, die eine Berichterstattung über ein Tagesereignisse privilegiert. Da ist genau die Frage, ob die einschlägig ist oder nicht. Vielleicht, wenn ich auf den weiteren Verfahrensgang in der Sache Afghanistan-Papiere zurückkomme, dass das Landgericht Köln-, das hat dem Unterlassungsanspruch erst einmal dann stattgegeben. Weil die davon ausgegangen sind, dass die Schranke aus Paragraph 50 Urhebergesetz hier nicht einschlägig sein kann. Das OLG Köln hat diese Entscheidung dann auch bestätigt. Und die Westdeutsche Allgemeine Zeitung wollte sich das aber nicht gefallen lassen und hat deshalb Revision beim BGH eingelegt. Der Bundesgerichtshof hat die Sache dann nicht entschieden, sondern hat sich mit einer oder mit mehreren Auslegungsfragen an den Europäischen Gerichtshof gewandt - im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist interessant. Das heißt, das Urheberrecht beziehungsweise die urheberrechtlichen Regelungen, die hier einschlägig sind, die beruhen auf irgendeiner Weise auf Unionsrecht?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Genau. Sogar sehr weitreichend. Wir haben vorhin die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen vom urheberrechtlichen Unterlassungsanspruch durchgesprochen. Es ist tatsächlich so, dass am Ende alle Tatbestandsvoraussetzungen unionsrechtlich determiniert sind. Das fängt an beim Werkbegriff. Wenn man zur nächsten Tatbestandsvoraussetzung kommt, dass das Urheberrecht verletzt ist-. Da haben wir ja vorhin von den Verwertungsrechten und den Schrankentatbestanden gesprochen. Beides ist unionsrechtlich in der Richtlinie determiniert. Die Verwertungsrechte sind sogar voll harmonisiert, die Schranken sind teilharmonisiert. Deswegen ist es so: Wenn man prüft, ob der Unterlassungsanspruch einschlägig ist, dass sich, im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung, sehr viele Fragen stellen, was das Unionsrecht angeht.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt hast du gerade beschrieben, wie das Unionsrecht hinter den urheberrechtlichen Schranken im Urhebergesetz steht. Was hat denn jetzt der EuGH gesagt? beziehungsweise was hat der BGH daraus gemacht?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Der BGH hat dem EuGH die Frage vorgelegt, was denn ist, wenn keine der Ausnahmen und Beschränkungen, die in der Richtlinie stehen, einschlägig ist, kann es dann Ausnahmen und Beschränkungen jenseits der Ausnahmen und Beschränkungen geben, die in der Richtlinie festgelegt sind.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Warum war der BGH denn dazu veranlasst, das zu fragen?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Der BGH war sich offensichtlich unsicher, ob hier die Schranke zur Berichterstattung über Tagesereignisse greifen kann. Und dann stellt sich schon die Frage, die auch sehr umstritten ist und die auch im deutschen Urheberrecht-. Das ist so eine der Fragen überhaupt. Was ist, wenn keine der Schranken einschlägig ist? Kann es dann oder muss es eine grundrechtliche Interessenabwägung jenseits der Schranken geben? Es ist im deutschen Urheberrecht eine ganz überwiegende Meinung in der Literatur und auch von der Rechtsprechung, wenn eine Verletzung von Verwertungsrechte geltend gemacht wird, dass es dann keine Grundrechtsabwägung geben darf, wenn keine der Schranken einschlägig ist. Weil man sagt, was du ja vorhin auch schon sagtest, dass die Schranken doch schon die Ausgestaltung von widerstreitenden Grundrechtsinteressen sind. Warum soll es denn dann noch eine grundrechtliche Interessenabwägung jenseits der Schranken geben? Deswegen keine Interessenabwägung jenseits der Schranken. Das ist so einer der Grundsätze im deutschen Urheberrecht.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und der BGH stellt sich jetzt diese Frage, weil er nach der Rechtsprechung der Untergerichte, des Landgerichts und des Oberlandesgerichts, hier davon ausgehen kann, dass diese Schranke von Paragraf 50 Urhebergesetz, für die die Berichterstattung über Tagesereignisse hier nicht einschlägig ist und deshalb vom EuGH also wissen möchte, ob darüber hinaus auch eine Interessenabwägung möglich ist. Okay, interessant. Und was sagt der EuGH?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Ja, der EuGH hat dem BGH geantwortet, dass es nur solche Ausnahmen und Beschränkungen von den Verwertungsrechten geben darf, die in den Ausnahmen und Beschränkungen der Richtlinie materiell-rechtlich angelegt sind. Der EuGH hat in der Entscheidung immer wieder betont, wie wichtig die Kommunikationsgrundrechte sind. Hat insoweit auf Artikel elf der Grundrechtecharta Bezug genommen und mehrmals festgestellt, dass die Ausnahmen und Beschränkungen der Richtlinie abschließend sind. Aber welche Bedeutung die Kommunikationsgrundrechte haben. Und in diesem Sinne hat der BGH dann die Schranke sehr weit verstanden, sehr weit ausgelegt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay, also der BGH nimmt die Vorgaben des EuGH sehr ernst. Keine Schranke oder keine Ausnahme von dem Unterlassungsanspruch jenseits dieser Schranken. Aber er sagt auch: Mit Blick auf das, was der EuGH gesagt hat und auf die grundrechtlichen Wirkungen, muss ich hier diese Schranke weit auslegen und den grundrechtlichen Wertungen Raum verschaffen.

RA VIKTORIA KRAETZIG: Genau. Man kann natürlich auch sagen, dass er sich dadurch auch der Frage entzogen hat - wo ich eben sagte, das ist eine der Fragen im Urheberrecht überhaupt -, ob es eine Interessenabwägung jenseits der Schranken geben kann. Der Frage hat sich der BGH damit gar nicht mehr stellen müssen, weil er die Interessenabwägung schon innerhalb der Schranke verorten konnte.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Der Bundesgerichtshof nimmt diese Vorgaben so auf und legt den Tatbestand des Urhebers weit aus und sagt: Wir haben hier einen Fall der Berichterstattung über Tagesereignisse. Das, was die Westdeutsche Allgemeine Zeitung mit der Veröffentlichung der Afghanistan-Papiere macht, ist eine Berichterstattung über Tagesereignisse. Das heißt, der urheberrechtliche Unterlassungsanspruch, den die Bundesregierung gewissermaßen als Waffe einsetzt, in Stellung bringt gegen die Veröffentlichung dieser geleakten Dokumente greift hier nicht. Die Ausnahme greift durch. Das heißt, nach der Entscheidung dürfen die urheberrechtlich geschützten Werke beschränkt werden. Also dürfen die Afghanistan-Papiere in der Öffentlichkeit bleiben. Wie ordnest du diese Entscheidung des Bundesgerichtshofs ein?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Ich denke, im Ergebnis ist die Entscheidung sehr erfreulich und absolut im Sinne der Kommunikationsgrundrechte. Dass der BGH hier entschieden hat, dass man den Kommunikationsinteressen der Nutzer den Vorrang einräumen muss. Gerade auch wenn man noch mal so ein bisschen guckt: Stichwort Demokratierelevanz. Natürlich ist es für die Öffentlichkeit interessant zu lesen, was bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Afghanistan passiert ist. Deswegen finde ich das Ergebnis absolut erfreulich. Ich bin allerdings nicht ganz glücklich, wie der BGH die Interessenabwägung dogmatisch verankert hat. Dass er das im Rahmen der Schranke getan hat. Ich sagte schon öfter, dass die Schranken sehr eng gefasst sind. Aus meiner Sicht konnte man hier zumindest bei methodenkonformer Auslegung wirklich nicht dazu kommen, dass man Paragraf 50 Urhebergesetz für einschlägig hält. Wenn man mal ganz kurz durchgeht: Es muss zum einen eine Berichterstattung vorliegen. Ich habe schon am Anfang, als ich den Fall geschildert habe, das extra so hervorgehoben, dass es hier gerade keine Berichterstattung gab. Das waren, glaube ich, zwei Anreißersätze, in denen zur Auswertung aufgerufen worden ist. Ich würde doch sagen, für eine Berichterstattung ist es schon nötig, dass eine gewisse Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Inhalt stattfindet. Die gab es ja aber nicht. Ich würde eigentlich sagen, bei der Berichterstattung sind wir schon raus. Dann sind wir-, gucken wir uns mal das nächste Tatbestandsmerkmal an: Tagesereignis. Wenn wir hier gucken, es ging um tausende Lageberichte von 2005 bis 2012 - also Lageberichte aus sieben Jahren. Ich frage mich, ob hier Tagesereignis vorliegt. Das ist schon sehr schwierig, überhaupt festzustellen, was überhaupt das Tagesereignisse sein soll. Das ist auch dem BGH sehr schwergefallen, glaube ich, wenn man in den Entscheidungsgründen diesen Passus liest. Ich musste den Satz bestimmt dreimal lesen, bis ich überhaupt verstanden habe, was der BGH hier als Tagesereignisse konstruieren möchte. Dann gibt es noch eine weitere Voraussetzung für die Schranke, nämlich dass das jeweilige Werk im Verlauf des Tagesereignisses wahrnehmbar geworden sein muss. Da muss man sagen, das war hier gerade nicht der Fall. Es war nicht so, dass über ein Tagesereignis berichtet werden sollte und dann ist im Verlauf dieses Tagesereignisses ein Werk wahrnehmbar geworden. Sondern es war ja gerade so, dass diese Lageberichte, das Tagesereignis an sich waren. Wenn man hier jetzt auch mal weiterdenkt, dann heißt das ja, dass jemand sich selber ein Tagesereignis schaffen kann. Das führt, finde ich, die ganze Schranke so ein bisschen ad absurdum. Deswegen bin ich der Meinung, dass die Schranke methodenkonform hier nicht mehr greifen konnte. Das ist den deutschen Gerichten überlassen, wie sie diese Wertung des Unionsrechts in unserer nationalen Rechtsordnung umsetzen. Da trifft es sich ganz toll, dass der urheberrechtliche Unterlassungsanspruch, wie alle zivilrechtlichen Unterlassungsansprüche, noch eine weitere Voraussetzung hat, nämlich dass die Urheberrechtsverletzung widerrechtlich erfolgt sein muss. Und widerrechtlich ist ja nun ein unbestimmter Rechtsbegriff, wie man ihn sich schöner nicht vorstellen kann. Wir kennen das aus anderen Unterlassungsansprüchen, wo genau dieser Begriff-, man denke zum Beispiel an den Unterlassungsanspruch aus 1004, wo dann die Rechtswidrigkeit oder hier die Widerrechtlichkeit geöffnet wird für eine Grundrechtsabwägung. Und das wäre meiner Ansicht nach der richtige Ansatz gewesen, dass man sagt, unsere nationalen Schranken sind leider zu eng. Es kann sein, dass die korrespondierende Ausnahme im Unionsrecht so weit gefasst ist, dass man den Sachverhalt darunter fassen kann. Unsere nationale Schranke ist, wie gesagt, zu eng, aber wir haben den unbestimmten Begriff der Widerrechtlichkeit. Dann öffnet man diesen Begriff als (?Notwende), um dort die Grundrechtabwägung vorzunehmen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das finde ich sehr interessant, weil du eine Diskussion aufmachst, die auf den ersten Blick vielleicht etwas technisch erscheinen mag. Man streitet sich über detaillierte Tatbestandsmerkmale, wie wir Juristinnen und Juristen das immer machen. Aber in diesem Fall wirkt das eher technisch, gerade weil du sagtest, dass du mit dem Ergebnis eigentlich zufrieden bist. Aber wenn ich dich richtig verstehe, willst du damit darauf aufmerksam machen, dass diese sehr eng gefassten, urheberrechtlichen Schrankentatbestände es eigentlich erst ermöglichen, dass man das Urheberrecht als Waffe einsetzt. Also dass man das Urheberrecht nur deshalb quasi missbrauchen kann, weil man sich hinstellen kann, ob jetzt als Staat oder auch als Privatperson: Ich habe diesen Unterlassungsanspruch und es gibt nur ganz eng gefasste Ausnahmen. Und jenseits dieser Ausnahmen findet keine Abwägung statt. Also ist die Ausnahme nicht einschlägig. Und deshalb kann ich meinen urheberrechtlichen Unterlassungsanspruch geltend machen. Das finde ich eine sehr spannende Perspektive.

RA VIKTORIA KRAETZIG: Ja, genauso ist es. Ich denke, man kann das sogar noch zugespitzter formulieren und sagen: Dadurch, dass die Rechtsprechung, seit Jahren in jedem Urteil, was vergleichbar ist, immer nur feststellt, dass es keine Grundrechtsabwägung jenseits der Schranken gibt. Dadurch macht die Rechtsprechung es überhaupt erst möglich, dass es dazu kommt, dass das Urheberrecht missbraucht wird, weil der jeweilige Betroffene weiß, wenn er einen urheberrechtlichen Unterlassungsanspruch geltend macht und keine der Schranken einschlägig ist, hat er nicht zu befürchten, dass in irgendeiner Weise die Kommunikationsgrundrechte berücksichtigt werden. Er kann die Kommunikationsgrundrechte durch eine Berufung auf das Urheberrecht gezielt aushebeln.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wie ist es denn in anderen Bereichen? Also ist das ein Phänomen, dass du spezifisch auf das Urheberrecht beschränkt sehen würdest?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Das ist aus meiner Sicht tatsächlich ein spezifisch urheberrechtliches Problem. Wenn man einen Unterlassungsanspruch wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geltend macht, dann ist es absolut üblich, dass es diese Grundrechtsabwägung gibt. Ein anderes gutes Beispiel ist-. Im Urheberrecht geht es ja um ein immaterielles Gut. Nehmen wir deswegen zum Beispiel den markenrechtlichen Unterlassungsanspruch, wo es auch um die Verletzung von einem Immaterialgüterrecht geht. Und auch im Markenrecht gibt es eine Grundrechtsabwägung. So dass man auch da tatsächlich zu ganz widersprüchlichen Ergebnissen kommen kann. Weil man eine Marke in einer Berichterstattung nennen kann. Da geht der Unterlassungsanspruch dann nicht durch, weil die Gerichte eben im Einzelfall eine Grundrechtsabwägung vornehmen. Wo man sich doch fragt, wie kann das sein, dass im Markenrecht eine Grundrechtsabwägung vorgenommen wird und dann im Urheberrecht aber nicht.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Hier ist es letzten Endes so, dass der Bundesgerichtshof, wenn er auch mit anderer Argumentation zu dem Ergebnis gekommen ist, was du hier für naheliegend erachtest, dass er nämlich dieses Tatbestandsmerkmale der Schranke sehr weit geöffnet hat, in dem Tatbestandsmerkmal die Grundrechte, die hier einschlägig sind, hinreichend berücksichtigt hat und dann gesagt hat: Der Unterlassungsanspruch geht hier nicht durch. Vielleicht gibt es aber andere Fälle, in denen dieses Problem am Ende noch ein bisschen deutlicher hervorgetreten ist.

RA VIKTORIA KRAETZIG: Es ist in der Praxis ein ganz großes Problem. Es ist auch so, dass nicht alle Missbrauchsfälle tatsächlich vor Gericht landen. Das heißt, von vielen Fällen gibt es auch einfach keine Urteile, die ich jetzt nennen könnte. Aber es ist in der Praxis ein Problem, mit dem Verlage zu kämpfen haben. Die meisten dieser Konstellationen werden außergerichtlich geregelt, weil die Verlage oder die Betroffenen wissen, dass sie hier, wenn jemand den urheberrechtlichen Unterlassungsanspruch geltend macht, pragmatisch gesagt, schlechte Karten haben, wenn der Fall vor Gericht landet. Weil es eben diese Grundrechtsabwägung im Urheberrecht bei einer Verletzung von Verwertungsrechten nicht gibt. Es ist auch keinesfalls so, das könnte man vielleicht nach der heutigen Folge denken, dass nur der Staat diesen Weg beschreiten würde. Nicht nur der Staat beruft sich auf sein Urheberrecht, um Berichterstattung zu unterdrücken, das tun auch immer wieder Privatpersonen. Da gibt es ein anderes prominentes Beispiel. Das ist die Rechtssache Reformistischer Aufbruch, in der sich der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck auf sein Urheberrecht berufen hat, um ein Manuskript zu unterdrücken, was er vor sehr langer Zeit verfasst hatte. Den Inhalt wollte er dann einige Tage vor der Bundestagswahl nicht veröffentlicht sehen und hat sich deswegen auf das Urheberrecht berufen. Ich denke, dass jedem sofort bewusst wird, dass es nicht richtig sein kann, wenn sich ein Bundestagsabgeordneter einige Tage vor der Wahl auf sein Urheberrecht berufen und eine Berichterstattung, die von öffentlichem Interesse ist, unterdrücken kann.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Daran wirkt, finde ich, das, was du als Missbrauchsfall beschreibst, besonders deutlich. Dass der Zielpunkt, die Inanspruchnahme des Urheberrechts, nicht ist, ein urheberrechtliches Verwertungsrecht, ein wirtschaftliches Recht zu schützen, vor der Inanspruchnahme durch Dritte und damit die damit verbundenen Einnahmen zu schützen oder die Freiheit, die Verwertung selbst zu gestalten. Sondern, dass es politische Ziele hat oder private Ziele, um die Veröffentlichung von Informationen zu unterbinden. Wie denkst du denn, entwickelt sich die Verwendung des Urheberrechts als Waffe, als missbräuchlicher Einsatz nicht zum Schutz primär des Urheberrechts und des Werkes, sondern primär zur Abwehr unliebsamer Nebenfolgen einer Veröffentlichung? Wie entwickelt sich das jetzt in der Zukunft weiter? Lässt sich denn da auch gerade mit Blick auf diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in diesem heute diskutierten Fall eine Entwicklung für die Zukunft absehen?

RA VIKTORIA KRAETZIG: Ich denke man sieht an der BGH-Entscheidung, dass dem Gerichtshof schon klar geworden ist, es muss hier eine Grundrechtsabwägung geben. Man sieht an dem Umstand, dass er das innerhalb der Schranke gemacht hat, dass er diese Grundrechtsabwägung offensichtlich unbedingt vornehmen wollte. Deswegen wäre meine Hoffnung schon, dass es in Zukunft eine Grundrechtsabwägung im Urheberrecht gibt, wenn offensichtlich Kommunikationsgrundrechte betroffen sind. Interessant wird es dann, denke ich, wenn wir Konstellationen vor Gericht sehen, in denen man die Schranke aus Paragraph 50 Urhebergesetz auch bei einer sehr weiten Auslegung nicht mehr greifen lassen kann. Dann wird sich der BGH noch mal der Frage stellen müssen, vor der er sich jetzt, salopp gesagt, gedrückt hat, nämlich der Frage, ob es eine Grundrechtsabwägung jenseits der Schranken geben kann.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Dann sind wir auch gespannt auf die weitere Rechtsentwicklung und hoffen, dass ein solcher BGH-Fall vielleicht bald auf deinem Schreibtisch landet. Liebe Viktoria, herzlichen Dank für das sehr interessante, vielseitige Gespräch. Vielen Dank, dass du heute bei uns zu Gast warst.

RA VIKTORIA KRAETZIG: Vielen Dank für die Einladung noch mal, Wendelin.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir hoffen, die Folge hat euch gefallen. Vielen Dank für das Zuhören. Wenn euch der Podcast Freude bereitet oder ihr Verbesserungsvorschläge habt, hinterlasst uns bitte eine Bewertung auf der Podcastplattform eures Vertrauens. Wir hören uns in der nächsten Folge Spruchreif in zwei Wochen.

Erwähnte Gerichtsentscheidungen

Die Entscheidung des BGH vom 30.04.2020 im Original findet ihr hier.

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